Stübchen*) ein geistiger Brunnensaal voll Arzeneiwasser und ich heile35 mich von manchen Miniatür-Sünden. Ich habe -- so lächerlich es klingt -- jeden Tag eine kleine Unart blos durch Denken und Üben ins Gegentheil zu verwandeln und schreibe dann für jeden Morgen die auf, gegen welche weiter zu medizinieren ist. Wörtlich5 wahr ists. Das erste war: 1) "nichts verschiebe" (hier mein' ich aber nicht Verschieben wichtiger Sachen, welchen Fehler ich nie hatte, sondern kleiner, z. B. das Nachtgeschirr hinaus zu tragen, oder das Kaffeegeschirr auf den andern Tisch zu setzen. Am zweiten Tage: "erhebe dich über kleine Unlust" d. h. krächze und ächze nicht10 z. B. am Morgen, wenn du erst Hemd ab- und anziehen mußt, deßgl. enge Sonntag-Strümpfe und das Übrige, bis du auf deinem Kanapee vor dem Buche ruhig zu liegen kommst. Vielmehr halte jedes überwundne Kleine für eine neue zweite, dritte Freude, bis du sitzest und liest. Am dritten Tage: "habe nach einer Gesellschaft15 "nichts zu bereuen, sondern sei eher zu furchtsam als zu kühn; denn, "mein Guter, so oft du mit Wolgefühl glaubst, du sprächest nur "kühn, so sprachst du schon zu kühn." Und so nimmt das Bessern gar kein Ende; und die vorigen Besserungen jedes Tags werden dabei immer rekapituliert. Morgen hab' ich die jetzt leichte Besserung20 auf: "Setze gewaltsam dich im Zürnen mehr in die fremde Stelle als "in deine eigne." Dieß bezieht sich darauf, daß ich mich, zumal bei losgelassener Kraftfülle, nur 1/4 Stundelang hinzusetzen brauche, um durch Aufhäufen der Phantasie mir selber gute Menschen an- und vorzuschwärzen. Und freilich ist das Recht wie das Unrecht nicht25 immer an meiner Seite. -- Der komische Ton mache Sie nicht irre an meinem innigsten Ernst. Es gibt nun doch kein anderes Mittel im Himmel und auf Erden, das Innere zu heilen und zu beglücken als nur durch das angestrengte Innere selber; und es ist dumm, kurze Hülfen von außen für fortwährende zu nehmen.30
d. 15. Morgens
Im ganzen Hause wohnen nur die alte prächtige Frau, eine 14jährige nicht schöne aber gutmüthige Nichte und die etwas ält-
*) Einsamkeit bezieht sich auf ein neues Verhältnis; nicht in Ihrem ein- sam[en] Stübchen sind Sie einsam, sondern im Döhlauer Palais.
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Stübchen*) ein geiſtiger Brunnenſaal voll Arzeneiwaſſer und ich heile35 mich von manchen Miniatür-Sünden. Ich habe — ſo lächerlich es klingt — jeden Tag eine kleine Unart blos durch Denken und Üben ins Gegentheil zu verwandeln und ſchreibe dann für jeden Morgen die auf, gegen welche weiter zu medizinieren iſt. Wörtlich5 wahr iſts. Das erſte war: 1) „nichts verſchiebe“ (hier mein’ ich aber nicht Verſchieben wichtiger Sachen, welchen Fehler ich nie hatte, ſondern kleiner, z. B. das Nachtgeſchirr hinaus zu tragen, oder das Kaffeegeſchirr auf den andern Tiſch zu ſetzen. Am zweiten Tage: „erhebe dich über kleine Unluſt“ d. h. krächze und ächze nicht10 z. B. am Morgen, wenn du erſt Hemd ab- und anziehen mußt, deßgl. enge Sonntag-Strümpfe und das Übrige, bis du auf deinem Kanapée vor dem Buche ruhig zu liegen kommſt. Vielmehr halte jedes überwundne Kleine für eine neue zweite, dritte Freude, bis du ſitzeſt und lieſt. Am dritten Tage: „habe nach einer Geſellſchaft15 „nichts zu bereuen, ſondern ſei eher zu furchtſam als zu kühn; denn, „mein Guter, ſo oft du mit Wolgefühl glaubſt, du ſprächeſt nur „kühn, ſo ſprachſt du ſchon zu kühn.“ Und ſo nimmt das Beſſern gar kein Ende; und die vorigen Beſſerungen jedes Tags werden dabei immer rekapituliert. Morgen hab’ ich die jetzt leichte Beſſerung20 auf: „Setze gewaltſam dich im Zürnen mehr in die fremde Stelle als „in deine eigne.“ Dieß bezieht ſich darauf, daß ich mich, zumal bei losgelaſſener Kraftfülle, nur ¼ Stundelang hinzuſetzen brauche, um durch Aufhäufen der Phantaſie mir ſelber gute Menſchen an- und vorzuſchwärzen. Und freilich iſt das Recht wie das Unrecht nicht25 immer an meiner Seite. — Der komiſche Ton mache Sie nicht irre an meinem innigſten Ernſt. Es gibt nun doch kein anderes Mittel im Himmel und auf Erden, das Innere zu heilen und zu beglücken als nur durch das angeſtrengte Innere ſelber; und es iſt dumm, kurze Hülfen von außen für fortwährende zu nehmen.30
d. 15. Morgens
Im ganzen Hauſe wohnen nur die alte prächtige Frau, eine 14jährige nicht ſchöne aber gutmüthige Nichte und die etwas ält-
*) Einſamkeit bezieht ſich auf ein neues Verhältnis; nicht in Ihrem ein- ſam[en] Stübchen ſind Sie einſam, ſondern im Döhlauer Palais.
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Stübchen *) ein geiſtiger Brunnenſaal voll Arzeneiwaſſer und ich heile 35
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es klingt — jeden Tag eine kleine Unart blos durch Denken und
Üben ins Gegentheil zu verwandeln und ſchreibe dann für jeden
Morgen die auf, gegen welche weiter zu medizinieren iſt. Wörtlich 5
wahr iſts. Das erſte war: 1) „nichts verſchiebe“ (hier mein’ ich
aber nicht Verſchieben wichtiger Sachen, welchen Fehler ich nie
hatte, ſondern kleiner, z. B. das Nachtgeſchirr hinaus zu tragen,
oder das Kaffeegeſchirr auf den andern Tiſch zu ſetzen. Am zweiten
Tage: „erhebe dich über kleine Unluſt“ d. h. krächze und ächze nicht 10
z. B. am Morgen, wenn du erſt Hemd ab- und anziehen mußt,
deßgl. enge Sonntag-Strümpfe und das Übrige, bis du auf deinem
Kanapée vor dem Buche ruhig zu liegen kommſt. Vielmehr halte
jedes überwundne Kleine für eine neue zweite, dritte Freude, bis
du ſitzeſt und lieſt. Am dritten Tage: „habe nach einer Geſellſchaft 15
„nichts zu bereuen, ſondern ſei eher zu furchtſam als zu kühn; denn,
„mein Guter, ſo oft du mit Wolgefühl glaubſt, du ſprächeſt nur
„kühn, ſo ſprachſt du ſchon zu kühn.“ Und ſo nimmt das Beſſern
gar kein Ende; und die vorigen Beſſerungen jedes Tags werden
dabei immer rekapituliert. Morgen hab’ ich die jetzt leichte Beſſerung 20
auf: „Setze gewaltſam dich im Zürnen mehr in die fremde Stelle als
„in deine eigne.“ Dieß bezieht ſich darauf, daß ich mich, zumal bei
losgelaſſener Kraftfülle, nur ¼ Stundelang hinzuſetzen brauche, um
durch Aufhäufen der Phantaſie mir ſelber gute Menſchen an- und
vorzuſchwärzen. Und freilich iſt das Recht wie das Unrecht nicht 25
immer an meiner Seite. — Der komiſche Ton mache Sie nicht irre
an meinem innigſten Ernſt. Es gibt nun doch kein anderes Mittel
im Himmel und auf Erden, das Innere zu heilen und zu beglücken
als nur durch das angeſtrengte Innere ſelber; und es iſt dumm, kurze
Hülfen von außen für fortwährende zu nehmen. 30
d. 15. Morgens
Im ganzen Hauſe wohnen nur die alte prächtige Frau, eine
14jährige nicht ſchöne aber gutmüthige Nichte und die etwas ält-
*) Einſamkeit bezieht ſich auf ein neues Verhältnis; nicht in Ihrem ein-
ſam[en] Stübchen ſind Sie einſam, ſondern im Döhlauer Palais.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:17:09Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:17:09Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 6. Berlin, 1952, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe06_1962/289>, abgerufen am 24.11.2024.
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