Mein geliebter Emanuel! Ich habe bisher natürlicher Weise immer an Sie und meine Frau zugleich geschrieben. Sie kennen also das schöne Nachtfest auf dem Main. Aber beinahe hätt' es mit5 Gräbern geschlossen. Das Schiff, das unserem mit Flöten und Frauen nachgekommen war, fuhr vor uns in großer Weite voraus, und unter der Sachsenhäuser Brücke lenkte der vom Lichte des Noten- pultes geblendete Schiffer falsch -- es stieß an, Wasser war im Schiff, die Lichter aus -- und nur die Kaltblütigkeit der Weiber,10 die sitzen blieben, rettete vor dem Umschwanken, wodurch so viele herrliche Mädchen und Jünglinge ohne Rettung ertrunken wären.*) In ihrer Todes Gefahr sahen sie fürchterlich oben unser singendes und leuchtendes Schiff ziehen. Aber ich weiß schon voraus, daß Gott eine so große allgemeine Freude mit einem solchen Schmerze verschont.15
Gestern war auf dem Forsthause das erste große Essen des Ge- lehrtenvereines von mehr als 80 Menschen, wo ich mich nach der Suppe und dem Rindfleische mußte ansingen lassen von der Gesell- schaft, und von einem herrlichen Vorsänger sammt Fortepiano, Pauken und Rest. Das Gedicht an sich, ohne Beziehung auf seine20 Wahrheit, ist sehr gut. Was noch vorging und welche Gesundheiten getrunken wurden -- z. B. auf Preßfreiheit, deutsche Sprache**) -- und meine Antworten und die vortrefflichen Gesundheiten und Ant- worten Wangenheims, alles soll mündlich erzählt werden. -- Wangenheim grüßte Sie schon längst und erkennt Sie mit seinen25 hohen Jugendflammen, womit er dem diplomatischen Corps manche Haare versengt, auf die schönste richtigste Weise. --
Das Unglück bei allen diesen Überhäufungen mit Menschen und Genüssen ist nur, daß ich gerne wieder in Ruhe und zu Hause sein möchte unter den Meinigen. Ich fürchte mich jetzo ordentlich vor30 Heidelberg und dessen Abend-Trink-Runds.
*) Die Männer sprangen auf einen Brückenabsatz und hielten so sich und Schiff fest, bis Hülfe kam.
**) Der tief sinnige köstliche deutsche Sprachgelehrte Radlof lebt hier als halber Bettler. Gott gab es mir ein, daß ich bei der Gesundheit "auf deutsche Sprache"35 aufstand und Radlof nannte und sagte, wie er leben würde, wenn er auch nur wenig zu leben hätte. Heute schon wird durch Gesandte und Gesellschaften für sein Glück gebauet. Nun kennt ihn die Stadt. Gesehen hab' ich ihn noch nicht.
*421. An Emanuel.
Frankfurt a. M. d. 11. Jun. 1818
Mein geliebter Emanuel! Ich habe bisher natürlicher Weiſe immer an Sie und meine Frau zugleich geſchrieben. Sie kennen alſo das ſchöne Nachtfeſt auf dem Main. Aber beinahe hätt’ es mit5 Gräbern geſchloſſen. Das Schiff, das unſerem mit Flöten und Frauen nachgekommen war, fuhr vor uns in großer Weite voraus, und unter der Sachſenhäuſer Brücke lenkte der vom Lichte des Noten- pultes geblendete Schiffer falſch — es ſtieß an, Waſſer war im Schiff, die Lichter aus — und nur die Kaltblütigkeit der Weiber,10 die ſitzen blieben, rettete vor dem Umſchwanken, wodurch ſo viele herrliche Mädchen und Jünglinge ohne Rettung ertrunken wären.*) In ihrer Todes Gefahr ſahen ſie fürchterlich oben unſer ſingendes und leuchtendes Schiff ziehen. Aber ich weiß ſchon voraus, daß Gott eine ſo große allgemeine Freude mit einem ſolchen Schmerze verſchont.15
Geſtern war auf dem Forſthauſe das erſte große Eſſen des Ge- lehrtenvereines von mehr als 80 Menſchen, wo ich mich nach der Suppe und dem Rindfleiſche mußte anſingen laſſen von der Geſell- ſchaft, und von einem herrlichen Vorſänger ſammt Fortepiano, Pauken und Reſt. Das Gedicht an ſich, ohne Beziehung auf ſeine20 Wahrheit, iſt ſehr gut. Was noch vorging und welche Geſundheiten getrunken wurden — z. B. auf Preßfreiheit, deutſche Sprache**) — und meine Antworten und die vortrefflichen Geſundheiten und Ant- worten Wangenheims, alles ſoll mündlich erzählt werden. — Wangenheim grüßte Sie ſchon längſt und erkennt Sie mit ſeinen25 hohen Jugendflammen, womit er dem diplomatiſchen Corps manche Haare verſengt, auf die ſchönſte richtigſte Weiſe. —
Das Unglück bei allen dieſen Überhäufungen mit Menſchen und Genüſſen iſt nur, daß ich gerne wieder in Ruhe und zu Hauſe ſein möchte unter den Meinigen. Ich fürchte mich jetzo ordentlich vor30 Heidelberg und deſſen Abend-Trink-Runds.
*) Die Männer ſprangen auf einen Brückenabſatz und hielten ſo ſich und Schiff feſt, bis Hülfe kam.
**) Der tief ſinnige köſtliche deutſche Sprachgelehrte Radlof lebt hier als halber Bettler. Gott gab es mir ein, daß ich bei der Geſundheit „auf deutſche Sprache“35 aufſtand und Radlof nannte und ſagte, wie er leben würde, wenn er auch nur wenig zu leben hätte. Heute ſchon wird durch Geſandte und Geſellſchaften für ſein Glück gebauet. Nun kennt ihn die Stadt. Geſehen hab’ ich ihn noch nicht.
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immer an Sie und meine Frau zugleich geſchrieben. Sie kennen alſo
das ſchöne Nachtfeſt auf dem Main. Aber beinahe hätt’ es mit 5
Gräbern geſchloſſen. Das Schiff, das unſerem mit Flöten und
Frauen nachgekommen war, fuhr vor uns in großer Weite voraus,
und unter der Sachſenhäuſer Brücke lenkte der vom Lichte des Noten-
pultes geblendete Schiffer falſch — es ſtieß an, Waſſer war im
Schiff, die Lichter aus — und nur die Kaltblütigkeit der Weiber, 10
die ſitzen blieben, rettete vor dem Umſchwanken, wodurch ſo viele
herrliche Mädchen und Jünglinge ohne Rettung ertrunken wären. *)
In ihrer Todes Gefahr ſahen ſie fürchterlich oben unſer ſingendes
und leuchtendes Schiff ziehen. Aber ich weiß ſchon voraus, daß Gott
eine ſo große allgemeine Freude mit einem ſolchen Schmerze verſchont. 15
Geſtern war auf dem Forſthauſe das erſte große Eſſen des Ge-
lehrtenvereines von mehr als 80 Menſchen, wo ich mich nach der
Suppe und dem Rindfleiſche mußte anſingen laſſen von der Geſell-
ſchaft, und von einem herrlichen Vorſänger ſammt Fortepiano,
Pauken und Reſt. Das Gedicht an ſich, ohne Beziehung auf ſeine 20
Wahrheit, iſt ſehr gut. Was noch vorging und welche Geſundheiten
getrunken wurden — z. B. auf Preßfreiheit, deutſche Sprache **) —
und meine Antworten und die vortrefflichen Geſundheiten und Ant-
worten Wangenheims, alles ſoll mündlich erzählt werden. —
Wangenheim grüßte Sie ſchon längſt und erkennt Sie mit ſeinen 25
hohen Jugendflammen, womit er dem diplomatiſchen Corps manche
Haare verſengt, auf die ſchönſte richtigſte Weiſe. —
Das Unglück bei allen dieſen Überhäufungen mit Menſchen und
Genüſſen iſt nur, daß ich gerne wieder in Ruhe und zu Hauſe ſein
möchte unter den Meinigen. Ich fürchte mich jetzo ordentlich vor 30
Heidelberg und deſſen Abend-Trink-Runds.
*) Die Männer ſprangen auf einen Brückenabſatz und hielten ſo ſich und
Schiff feſt, bis Hülfe kam.
**) Der tief ſinnige köſtliche deutſche Sprachgelehrte Radlof lebt hier als halber
Bettler. Gott gab es mir ein, daß ich bei der Geſundheit „auf deutſche Sprache“ 35
aufſtand und Radlof nannte und ſagte, wie er leben würde, wenn er auch nur
wenig zu leben hätte. Heute ſchon wird durch Geſandte und Geſellſchaften für ſein
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:19:52Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:19:52Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 7. Berlin, 1954, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe07_1954/208>, abgerufen am 16.02.2025.
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