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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Abstand moderner Rechtsanschauung von der der Kindheitszeit. §. 9.
sonst als ewiges Eigenthum der menschlichen Vernunft erschei-
nen könnten, in der That nichts sind, als Resultate jenes Pro-
zesses. Und es sind dies gerade solche, die in der heutigen Zeit
im Niedrigsten wie im Höchsten lebendig und das Gemeingut
aller Völker sind. Daß der Mensch als solcher Rechtssubjekt ist,
nicht bloß der Bürger, daß die Kriegsgefangenschaft keine Skla-
verei begründet, daß die Selbsthülfe der Rechtsordnung wider-
streitet, daß der Staat etwas anderes, höheres ist, als die
Summe der Individuen, andere Aufgaben und andere Mittel
hat, als die letzteren zukommen, vor allem aber die Aufgabe,
Recht und Gerechtigkeit bis in die kleinsten Kreise hinein zu ver-
wirklichen -- diese Sätze sind unserer heutigen Auffassung so zu
eigen geworden, daß wir kaum begreifen, wie hinsichtlich ihrer
je eine Abweichung möglich gewesen ist. Darin aber offenbart
sich so recht der riesige Fortschritt der Geschichte, daß die folgen-
reichsten Wahrheiten, zu denen sich in früherer Zeit kaum der
kühnste Flug hervorragender Geister erhob, aus jener, möchte
ich sagen, Schnee- und Eisregion, in der sie Jahrtausende un-
zugänglich und verborgen lagen, in die tiefsten Niederungen hin-
abgewälzt und Gemeingut der Gebildeten wie der Ungebildeten
geworden sind. In diesen einfachen Wahrheiten steckt ein ganz
anderer Werth und eine viel mühsamere Arbeit des menschlichen
Geistes, als in allen jenen Erfindungen und Entdeckungen, die
den Stolz unseres Jahrhunderts bilden, und wollte man die
Fortschritte zusammenstellen, die unsere Zeit vor den ersten An-
fängen der Cultur oder auch nur vor der Cultur des Alterthums
voraus hat: in meinen Augen verdienten jene einfachen Wahr-
heiten obenanzustehn. Alle Schätze der Wissenschaft kommen
gegen den Werth solcher dem Volke eingeimpfter und darum un-
vergänglicher und das Leben gestaltender Wahrheiten gar nicht
in Betracht. Die Wissenschaft kann steigen und fallen und mit
ihr gehen die Schätze unter, die sie angesammelt hat, aber die
einfachen, grandiosen Wahrheiten, deren sie sich einmal zu Gun-
sten des Volks entäußert hat, dauern fort als unvergängliches

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Abſtand moderner Rechtsanſchauung von der der Kindheitszeit. §. 9.
ſonſt als ewiges Eigenthum der menſchlichen Vernunft erſchei-
nen könnten, in der That nichts ſind, als Reſultate jenes Pro-
zeſſes. Und es ſind dies gerade ſolche, die in der heutigen Zeit
im Niedrigſten wie im Höchſten lebendig und das Gemeingut
aller Völker ſind. Daß der Menſch als ſolcher Rechtsſubjekt iſt,
nicht bloß der Bürger, daß die Kriegsgefangenſchaft keine Skla-
verei begründet, daß die Selbſthülfe der Rechtsordnung wider-
ſtreitet, daß der Staat etwas anderes, höheres iſt, als die
Summe der Individuen, andere Aufgaben und andere Mittel
hat, als die letzteren zukommen, vor allem aber die Aufgabe,
Recht und Gerechtigkeit bis in die kleinſten Kreiſe hinein zu ver-
wirklichen — dieſe Sätze ſind unſerer heutigen Auffaſſung ſo zu
eigen geworden, daß wir kaum begreifen, wie hinſichtlich ihrer
je eine Abweichung möglich geweſen iſt. Darin aber offenbart
ſich ſo recht der rieſige Fortſchritt der Geſchichte, daß die folgen-
reichſten Wahrheiten, zu denen ſich in früherer Zeit kaum der
kühnſte Flug hervorragender Geiſter erhob, aus jener, möchte
ich ſagen, Schnee- und Eisregion, in der ſie Jahrtauſende un-
zugänglich und verborgen lagen, in die tiefſten Niederungen hin-
abgewälzt und Gemeingut der Gebildeten wie der Ungebildeten
geworden ſind. In dieſen einfachen Wahrheiten ſteckt ein ganz
anderer Werth und eine viel mühſamere Arbeit des menſchlichen
Geiſtes, als in allen jenen Erfindungen und Entdeckungen, die
den Stolz unſeres Jahrhunderts bilden, und wollte man die
Fortſchritte zuſammenſtellen, die unſere Zeit vor den erſten An-
fängen der Cultur oder auch nur vor der Cultur des Alterthums
voraus hat: in meinen Augen verdienten jene einfachen Wahr-
heiten obenanzuſtehn. Alle Schätze der Wiſſenſchaft kommen
gegen den Werth ſolcher dem Volke eingeimpfter und darum un-
vergänglicher und das Leben geſtaltender Wahrheiten gar nicht
in Betracht. Die Wiſſenſchaft kann ſteigen und fallen und mit
ihr gehen die Schätze unter, die ſie angeſammelt hat, aber die
einfachen, grandioſen Wahrheiten, deren ſie ſich einmal zu Gun-
ſten des Volks entäußert hat, dauern fort als unvergängliches

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[99/0117] Abſtand moderner Rechtsanſchauung von der der Kindheitszeit. §. 9. ſonſt als ewiges Eigenthum der menſchlichen Vernunft erſchei- nen könnten, in der That nichts ſind, als Reſultate jenes Pro- zeſſes. Und es ſind dies gerade ſolche, die in der heutigen Zeit im Niedrigſten wie im Höchſten lebendig und das Gemeingut aller Völker ſind. Daß der Menſch als ſolcher Rechtsſubjekt iſt, nicht bloß der Bürger, daß die Kriegsgefangenſchaft keine Skla- verei begründet, daß die Selbſthülfe der Rechtsordnung wider- ſtreitet, daß der Staat etwas anderes, höheres iſt, als die Summe der Individuen, andere Aufgaben und andere Mittel hat, als die letzteren zukommen, vor allem aber die Aufgabe, Recht und Gerechtigkeit bis in die kleinſten Kreiſe hinein zu ver- wirklichen — dieſe Sätze ſind unſerer heutigen Auffaſſung ſo zu eigen geworden, daß wir kaum begreifen, wie hinſichtlich ihrer je eine Abweichung möglich geweſen iſt. Darin aber offenbart ſich ſo recht der rieſige Fortſchritt der Geſchichte, daß die folgen- reichſten Wahrheiten, zu denen ſich in früherer Zeit kaum der kühnſte Flug hervorragender Geiſter erhob, aus jener, möchte ich ſagen, Schnee- und Eisregion, in der ſie Jahrtauſende un- zugänglich und verborgen lagen, in die tiefſten Niederungen hin- abgewälzt und Gemeingut der Gebildeten wie der Ungebildeten geworden ſind. In dieſen einfachen Wahrheiten ſteckt ein ganz anderer Werth und eine viel mühſamere Arbeit des menſchlichen Geiſtes, als in allen jenen Erfindungen und Entdeckungen, die den Stolz unſeres Jahrhunderts bilden, und wollte man die Fortſchritte zuſammenſtellen, die unſere Zeit vor den erſten An- fängen der Cultur oder auch nur vor der Cultur des Alterthums voraus hat: in meinen Augen verdienten jene einfachen Wahr- heiten obenanzuſtehn. Alle Schätze der Wiſſenſchaft kommen gegen den Werth ſolcher dem Volke eingeimpfter und darum un- vergänglicher und das Leben geſtaltender Wahrheiten gar nicht in Betracht. Die Wiſſenſchaft kann ſteigen und fallen und mit ihr gehen die Schätze unter, die ſie angeſammelt hat, aber die einfachen, grandioſen Wahrheiten, deren ſie ſich einmal zu Gun- ſten des Volks entäußert hat, dauern fort als unvergängliches 7*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/117>, abgerufen am 15.05.2024.