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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
Resultat ihrer Arbeit. Der eine Satz, daß der Mensch als solcher
Rechtssubjekt ist, -- ein Satz, zu dem das römische Recht sich
praktisch niemals erhoben hat -- wiegt für die Menschheit mehr,
als alle Triumphe der Industrie, und dieser eine Satz schon be-
zeichnet einen Fortschritt des heutigen Rechts gegen das römi-
sche, gegen den die Ueberlegenheit des letztern hinsichtlich der
technischen Vollendung ganz in den Schatten tritt. Um diesen
Satz zu verwirklichen, hat die Geschichte Jahrtausende arbeiten
müssen; Millionen Menschen haben in Sklaverei geseufzt, ganze
Völker sind vom Erdboden vertilgt und haben mit ihrem Blute
den Boden düngen müssen, dem jene einfache Wahrheit ent-
sprossen ist.

Warum diese Betrachtung? Um eine Warnung eindringlich
zu machen, die wir für den ganzen Verlauf der folgenden Unter-
suchung nie außer Acht lassen dürfen, nämlich nie zu vergessen,
daß Rechtsanschauungen, die allen heutigen Völkern gemeinsam
sind und uns als Ausflüsse der reinen Vernunft erscheinen, in
der That nur das Ergebniß der Geschichte sind. Gerade
bei solchen Ansichten, von deren Natürlichkeit und Nothwendig-
keit jeder so durchdrungen ist, daß er sich gar nicht die Mög-
lichkeit des Gegentheils denkt, ist diese Warnung am ersten er-
forderlich.

Die Geschichte beginnt mit unendlich schwachen Keimen.
An der Stelle, wo später ein zahlreiches Volk sich bewegt, und
über demselben ein mächtiges Staatsgebäude sich wölbt, hat es
zu irgend einer Zeit nichts gegeben, als Individuen, Familien,
auf deren Gemeinschaft sich der Name Staat nicht anwenden
läßt. Und doch ist diese Gemeinschaft zweifellos der Keim des
spätern Staats und Rechts gewesen, und es muß sich, da die
Geschichte sowenig wie die Natur Sprünge kennt, der Staat
allmählig aus ihr entwickelt haben. Wie ist dies geschehen?
Die heutige Wissenschaft scheint uns diese Frage zu verwehren,
denn ihr zufolge beginnt Recht und Geschichte erst mit dem
Staat. Wir dürften uns also hinsichtlich unserer Aufgabe be-

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Reſultat ihrer Arbeit. Der eine Satz, daß der Menſch als ſolcher
Rechtsſubjekt iſt, — ein Satz, zu dem das römiſche Recht ſich
praktiſch niemals erhoben hat — wiegt für die Menſchheit mehr,
als alle Triumphe der Induſtrie, und dieſer eine Satz ſchon be-
zeichnet einen Fortſchritt des heutigen Rechts gegen das römi-
ſche, gegen den die Ueberlegenheit des letztern hinſichtlich der
techniſchen Vollendung ganz in den Schatten tritt. Um dieſen
Satz zu verwirklichen, hat die Geſchichte Jahrtauſende arbeiten
müſſen; Millionen Menſchen haben in Sklaverei geſeufzt, ganze
Völker ſind vom Erdboden vertilgt und haben mit ihrem Blute
den Boden düngen müſſen, dem jene einfache Wahrheit ent-
ſproſſen iſt.

Warum dieſe Betrachtung? Um eine Warnung eindringlich
zu machen, die wir für den ganzen Verlauf der folgenden Unter-
ſuchung nie außer Acht laſſen dürfen, nämlich nie zu vergeſſen,
daß Rechtsanſchauungen, die allen heutigen Völkern gemeinſam
ſind und uns als Ausflüſſe der reinen Vernunft erſcheinen, in
der That nur das Ergebniß der Geſchichte ſind. Gerade
bei ſolchen Anſichten, von deren Natürlichkeit und Nothwendig-
keit jeder ſo durchdrungen iſt, daß er ſich gar nicht die Mög-
lichkeit des Gegentheils denkt, iſt dieſe Warnung am erſten er-
forderlich.

Die Geſchichte beginnt mit unendlich ſchwachen Keimen.
An der Stelle, wo ſpäter ein zahlreiches Volk ſich bewegt, und
über demſelben ein mächtiges Staatsgebäude ſich wölbt, hat es
zu irgend einer Zeit nichts gegeben, als Individuen, Familien,
auf deren Gemeinſchaft ſich der Name Staat nicht anwenden
läßt. Und doch iſt dieſe Gemeinſchaft zweifellos der Keim des
ſpätern Staats und Rechts geweſen, und es muß ſich, da die
Geſchichte ſowenig wie die Natur Sprünge kennt, der Staat
allmählig aus ihr entwickelt haben. Wie iſt dies geſchehen?
Die heutige Wiſſenſchaft ſcheint uns dieſe Frage zu verwehren,
denn ihr zufolge beginnt Recht und Geſchichte erſt mit dem
Staat. Wir dürften uns alſo hinſichtlich unſerer Aufgabe be-

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[100/0118] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. Reſultat ihrer Arbeit. Der eine Satz, daß der Menſch als ſolcher Rechtsſubjekt iſt, — ein Satz, zu dem das römiſche Recht ſich praktiſch niemals erhoben hat — wiegt für die Menſchheit mehr, als alle Triumphe der Induſtrie, und dieſer eine Satz ſchon be- zeichnet einen Fortſchritt des heutigen Rechts gegen das römi- ſche, gegen den die Ueberlegenheit des letztern hinſichtlich der techniſchen Vollendung ganz in den Schatten tritt. Um dieſen Satz zu verwirklichen, hat die Geſchichte Jahrtauſende arbeiten müſſen; Millionen Menſchen haben in Sklaverei geſeufzt, ganze Völker ſind vom Erdboden vertilgt und haben mit ihrem Blute den Boden düngen müſſen, dem jene einfache Wahrheit ent- ſproſſen iſt. Warum dieſe Betrachtung? Um eine Warnung eindringlich zu machen, die wir für den ganzen Verlauf der folgenden Unter- ſuchung nie außer Acht laſſen dürfen, nämlich nie zu vergeſſen, daß Rechtsanſchauungen, die allen heutigen Völkern gemeinſam ſind und uns als Ausflüſſe der reinen Vernunft erſcheinen, in der That nur das Ergebniß der Geſchichte ſind. Gerade bei ſolchen Anſichten, von deren Natürlichkeit und Nothwendig- keit jeder ſo durchdrungen iſt, daß er ſich gar nicht die Mög- lichkeit des Gegentheils denkt, iſt dieſe Warnung am erſten er- forderlich. Die Geſchichte beginnt mit unendlich ſchwachen Keimen. An der Stelle, wo ſpäter ein zahlreiches Volk ſich bewegt, und über demſelben ein mächtiges Staatsgebäude ſich wölbt, hat es zu irgend einer Zeit nichts gegeben, als Individuen, Familien, auf deren Gemeinſchaft ſich der Name Staat nicht anwenden läßt. Und doch iſt dieſe Gemeinſchaft zweifellos der Keim des ſpätern Staats und Rechts geweſen, und es muß ſich, da die Geſchichte ſowenig wie die Natur Sprünge kennt, der Staat allmählig aus ihr entwickelt haben. Wie iſt dies geſchehen? Die heutige Wiſſenſchaft ſcheint uns dieſe Frage zu verwehren, denn ihr zufolge beginnt Recht und Geſchichte erſt mit dem Staat. Wir dürften uns alſo hinſichtlich unſerer Aufgabe be-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/118>, abgerufen am 15.05.2024.