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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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2. Der Staat -- 1. Familienprinzip. Gentil. Sittenpolizei. §. 14.
widerstrebte, so darf man um so ehr der ältern Zeit eine gleiche
Ansicht unterlegen. Theils nämlich, weil diese Idee überhaupt
eine patriarchalische, kindlich naive ist, theils und vor allem
aber weil diese sittenrichterliche Gewalt in der alten Gentilver-
fassung ungleich motivirter ist, als in der spätern. Daß ein
öffentlicher Beamter den Bürger wegen Unfleißes, Leichtsinnes
u. s. w. zur Verantwortung zieht, hat etwas viel herberes, ent-
hält eine weit drastischere Remedur, als wenn die Genossen, die
ihn im Nothfall unterstützen sollen, dies thun. Hinsichtlich der
letztern ist es ein durch ihr eigenes Interesse und die Rücksicht
auf den guten Ruf ihrer Genossenschaft gebotenes Sicherungs-
mittel; es sind Familienmitglieder, die ihm eine Warnung er-
theilen, und kein Dritter wird hinzugezogen. Jene sittenrichter-
liche Gewalt des Censors hat in der Familie ihren natürlichen
Ausgangspunkt.

Weit entfernt also, die Einführung der sittenrichterlichen
Gewalt in Rom von der der Censur an zu datiren, erblicke ich
in letzterer nichts als die spätere Gestalt einer uralten Einrich-
tung, eine Handhabung derselben von Seiten des Gesammt-
staats
gegenüber Plebejern sowohl wie Patriciern, wäh-
rend dieselbe bis dahin an die patricische Gentilverfassung ge-
knüpft gewesen war. Es ist bezeichnend, daß die Censur zwei
Jahre nach der lex Canuleja, die den Plebejern das connubium
mit den Patriciern verlieh, eingeführt ward, und daß sie in
demselben Maße an Macht und Einfluß zunimmt, wie die alte
Gentilverfassung abnimmt. Nachdem durch jenes Gesetz die fa-
milienrechtliche Scheidewand zwischen Patriciern und Plebejern
niedergerissen war, legte die Censur den Keim zu einer Verall-
gemeinerung jener ursprünglich patricischen Sittenpolizei. Die
Idee war eine alte, die Form eine neue und bedingt durch den
Mangel des Gentilitätsverbandes bei den Plebejern. Die Straf-
mittel, die dem Censor zu Gebote standen, hatten denselben
Charakter, wie die der Gens, nämlich den der Ausschließung
(von der Tribus, dem Senat, den Rittern); sie beruhten auf

Jhering, Geist d. röm. Rechts. 12

2. Der Staat — 1. Familienprinzip. Gentil. Sittenpolizei. §. 14.
widerſtrebte, ſo darf man um ſo ehr der ältern Zeit eine gleiche
Anſicht unterlegen. Theils nämlich, weil dieſe Idee überhaupt
eine patriarchaliſche, kindlich naive iſt, theils und vor allem
aber weil dieſe ſittenrichterliche Gewalt in der alten Gentilver-
faſſung ungleich motivirter iſt, als in der ſpätern. Daß ein
öffentlicher Beamter den Bürger wegen Unfleißes, Leichtſinnes
u. ſ. w. zur Verantwortung zieht, hat etwas viel herberes, ent-
hält eine weit draſtiſchere Remedur, als wenn die Genoſſen, die
ihn im Nothfall unterſtützen ſollen, dies thun. Hinſichtlich der
letztern iſt es ein durch ihr eigenes Intereſſe und die Rückſicht
auf den guten Ruf ihrer Genoſſenſchaft gebotenes Sicherungs-
mittel; es ſind Familienmitglieder, die ihm eine Warnung er-
theilen, und kein Dritter wird hinzugezogen. Jene ſittenrichter-
liche Gewalt des Cenſors hat in der Familie ihren natürlichen
Ausgangspunkt.

Weit entfernt alſo, die Einführung der ſittenrichterlichen
Gewalt in Rom von der der Cenſur an zu datiren, erblicke ich
in letzterer nichts als die ſpätere Geſtalt einer uralten Einrich-
tung, eine Handhabung derſelben von Seiten des Geſammt-
ſtaats
gegenüber Plebejern ſowohl wie Patriciern, wäh-
rend dieſelbe bis dahin an die patriciſche Gentilverfaſſung ge-
knüpft geweſen war. Es iſt bezeichnend, daß die Cenſur zwei
Jahre nach der lex Canuleja, die den Plebejern das connubium
mit den Patriciern verlieh, eingeführt ward, und daß ſie in
demſelben Maße an Macht und Einfluß zunimmt, wie die alte
Gentilverfaſſung abnimmt. Nachdem durch jenes Geſetz die fa-
milienrechtliche Scheidewand zwiſchen Patriciern und Plebejern
niedergeriſſen war, legte die Cenſur den Keim zu einer Verall-
gemeinerung jener urſprünglich patriciſchen Sittenpolizei. Die
Idee war eine alte, die Form eine neue und bedingt durch den
Mangel des Gentilitätsverbandes bei den Plebejern. Die Straf-
mittel, die dem Cenſor zu Gebote ſtanden, hatten denſelben
Charakter, wie die der Gens, nämlich den der Ausſchließung
(von der Tribus, dem Senat, den Rittern); ſie beruhten auf

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[177/0195] 2. Der Staat — 1. Familienprinzip. Gentil. Sittenpolizei. §. 14. widerſtrebte, ſo darf man um ſo ehr der ältern Zeit eine gleiche Anſicht unterlegen. Theils nämlich, weil dieſe Idee überhaupt eine patriarchaliſche, kindlich naive iſt, theils und vor allem aber weil dieſe ſittenrichterliche Gewalt in der alten Gentilver- faſſung ungleich motivirter iſt, als in der ſpätern. Daß ein öffentlicher Beamter den Bürger wegen Unfleißes, Leichtſinnes u. ſ. w. zur Verantwortung zieht, hat etwas viel herberes, ent- hält eine weit draſtiſchere Remedur, als wenn die Genoſſen, die ihn im Nothfall unterſtützen ſollen, dies thun. Hinſichtlich der letztern iſt es ein durch ihr eigenes Intereſſe und die Rückſicht auf den guten Ruf ihrer Genoſſenſchaft gebotenes Sicherungs- mittel; es ſind Familienmitglieder, die ihm eine Warnung er- theilen, und kein Dritter wird hinzugezogen. Jene ſittenrichter- liche Gewalt des Cenſors hat in der Familie ihren natürlichen Ausgangspunkt. Weit entfernt alſo, die Einführung der ſittenrichterlichen Gewalt in Rom von der der Cenſur an zu datiren, erblicke ich in letzterer nichts als die ſpätere Geſtalt einer uralten Einrich- tung, eine Handhabung derſelben von Seiten des Geſammt- ſtaats gegenüber Plebejern ſowohl wie Patriciern, wäh- rend dieſelbe bis dahin an die patriciſche Gentilverfaſſung ge- knüpft geweſen war. Es iſt bezeichnend, daß die Cenſur zwei Jahre nach der lex Canuleja, die den Plebejern das connubium mit den Patriciern verlieh, eingeführt ward, und daß ſie in demſelben Maße an Macht und Einfluß zunimmt, wie die alte Gentilverfaſſung abnimmt. Nachdem durch jenes Geſetz die fa- milienrechtliche Scheidewand zwiſchen Patriciern und Plebejern niedergeriſſen war, legte die Cenſur den Keim zu einer Verall- gemeinerung jener urſprünglich patriciſchen Sittenpolizei. Die Idee war eine alte, die Form eine neue und bedingt durch den Mangel des Gentilitätsverbandes bei den Plebejern. Die Straf- mittel, die dem Cenſor zu Gebote ſtanden, hatten denſelben Charakter, wie die der Gens, nämlich den der Ausſchließung (von der Tribus, dem Senat, den Rittern); ſie beruhten auf Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 12

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/195>, abgerufen am 23.11.2024.