Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
in Anspruch genommenes Recht ab, so heißt das genauer aus-
gedrückt: er erklärt bloß die Unzulässigkeit der Klage, nicht die
Nichtexistenz des Rechts selbst. Ebenso bezieht sich die gesammte
Thätigkeit des Prätors nur auf die Klage; er verleiht, verwei-
gert Klagen, ohne daß dadurch das Recht selbst getroffen würde,
und wenn er einem Berechtigten die faktische Ausübung des
Rechts völlig entzogen hätte und ihm jegliche rechtliche Geltend-
machung desselben verwehrte, das Recht selbst kann er nicht auf-
heben. Die ganze Privatrechtspflege auch der spätern Zeit
weist auf diesen Gesichtspunkt hin.

Worin lag nun die praktische Realität eines vom Staat
nicht anerkannten, aber nach natürlicher Ansicht vorhandenen
Rechts? Sie lag theils in der Macht dieser Ansicht selbst d. h.
in der thatsächlichen Anerkennung, die man unter dem Einflusse
einer solchen Rechtsanschauung einem derartigen Recht zukom-
men ließ, theils in der formlosen Selbsthülfe, soweit dieselbe
erfolgreich war d. h. in ihrer Richtung auf Schutz im Besitz, 117)
theils bei einigen Rechten in einem Institut, das den Uebergang
derselben in rechtlich anerkannte vermittelte, der Usucapion.
Letztere bildet für diese Rechte die Brücke vom subjektiven Prinzip
zum Gebiet des Staatsschutzes; sie verschafft dem vom Stand-
punkt des subjektiven Prinzips aus vorhandenen Recht -- wir
wollen es ein rein subjektives nennen -- den Charakter eines
öffentlich anerkannten. Eine formlose öffentliche Anerkennung
kann man darin finden, daß jenes Recht längere Zeit hindurch

fundus, testamento alicujus fieri potest; ut retineam, quod meum factum
est, sine jure civili non potest. Fundus a patre relinqui potest, at usu-
capio fundi, hoc est finis sollicitudinis ac periculi litium non a patre
relinquitur, sed a legibus. Aquaeductus, haustus, iter, actus a patre,
sed rata auctoritas harum rerum omnium a jure civili sumitur. -- Pri-
mum illud concedis non quidquid populus jusserit, ratum esse oportere

u. s. w.
117) In Anwendung auf eine obligatio naturalis bestand dies in der
soluti retentio gegenüber der condictio indebiti.

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
in Anſpruch genommenes Recht ab, ſo heißt das genauer aus-
gedrückt: er erklärt bloß die Unzuläſſigkeit der Klage, nicht die
Nichtexiſtenz des Rechts ſelbſt. Ebenſo bezieht ſich die geſammte
Thätigkeit des Prätors nur auf die Klage; er verleiht, verwei-
gert Klagen, ohne daß dadurch das Recht ſelbſt getroffen würde,
und wenn er einem Berechtigten die faktiſche Ausübung des
Rechts völlig entzogen hätte und ihm jegliche rechtliche Geltend-
machung deſſelben verwehrte, das Recht ſelbſt kann er nicht auf-
heben. Die ganze Privatrechtspflege auch der ſpätern Zeit
weiſt auf dieſen Geſichtspunkt hin.

Worin lag nun die praktiſche Realität eines vom Staat
nicht anerkannten, aber nach natürlicher Anſicht vorhandenen
Rechts? Sie lag theils in der Macht dieſer Anſicht ſelbſt d. h.
in der thatſächlichen Anerkennung, die man unter dem Einfluſſe
einer ſolchen Rechtsanſchauung einem derartigen Recht zukom-
men ließ, theils in der formloſen Selbſthülfe, ſoweit dieſelbe
erfolgreich war d. h. in ihrer Richtung auf Schutz im Beſitz, 117)
theils bei einigen Rechten in einem Inſtitut, das den Uebergang
derſelben in rechtlich anerkannte vermittelte, der Uſucapion.
Letztere bildet für dieſe Rechte die Brücke vom ſubjektiven Prinzip
zum Gebiet des Staatsſchutzes; ſie verſchafft dem vom Stand-
punkt des ſubjektiven Prinzips aus vorhandenen Recht — wir
wollen es ein rein ſubjektives nennen — den Charakter eines
öffentlich anerkannten. Eine formloſe öffentliche Anerkennung
kann man darin finden, daß jenes Recht längere Zeit hindurch

fundus, testamento alicujus fieri potest; ut retineam, quod meum factum
est, sine jure civili non potest. Fundus a patre relinqui potest, at usu-
capio fundi, hoc est finis sollicitudinis ac periculi litium non a patre
relinquitur, sed a legibus. Aquaeductus, haustus, iter, actus a patre,
sed rata auctoritas harum rerum omnium a jure civili sumitur. — Pri-
mum illud concedis non quidquid populus jusserit, ratum esse oportere

u. ſ. w.
117) In Anwendung auf eine obligatio naturalis beſtand dies in der
soluti retentio gegenüber der condictio indebiti.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0230" n="212"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes Buch &#x2014; Ausgangspunkte des römi&#x017F;chen Rechts.</fw><lb/>
in An&#x017F;pruch genommenes Recht ab, &#x017F;o heißt das genauer aus-<lb/>
gedrückt: er erklärt bloß die Unzulä&#x017F;&#x017F;igkeit der Klage, nicht die<lb/>
Nichtexi&#x017F;tenz des Rechts &#x017F;elb&#x017F;t. Eben&#x017F;o bezieht &#x017F;ich die ge&#x017F;ammte<lb/>
Thätigkeit des Prätors nur auf die Klage; er verleiht, verwei-<lb/>
gert Klagen, ohne daß dadurch das Recht &#x017F;elb&#x017F;t getroffen würde,<lb/>
und wenn er einem Berechtigten die fakti&#x017F;che Ausübung des<lb/>
Rechts völlig entzogen hätte und ihm jegliche rechtliche Geltend-<lb/>
machung de&#x017F;&#x017F;elben verwehrte, das Recht &#x017F;elb&#x017F;t kann er nicht auf-<lb/>
heben. Die ganze Privatrechtspflege auch der &#x017F;pätern Zeit<lb/>
wei&#x017F;t auf die&#x017F;en Ge&#x017F;ichtspunkt hin.</p><lb/>
                  <p>Worin lag nun die prakti&#x017F;che Realität eines vom Staat<lb/>
nicht anerkannten, aber nach natürlicher An&#x017F;icht vorhandenen<lb/>
Rechts? Sie lag theils in der Macht die&#x017F;er An&#x017F;icht &#x017F;elb&#x017F;t d. h.<lb/>
in der that&#x017F;ächlichen Anerkennung, die man unter dem Einflu&#x017F;&#x017F;e<lb/>
einer &#x017F;olchen Rechtsan&#x017F;chauung einem derartigen Recht zukom-<lb/>
men ließ, theils in der formlo&#x017F;en Selb&#x017F;thülfe, &#x017F;oweit die&#x017F;elbe<lb/>
erfolgreich war d. h. in ihrer Richtung auf Schutz im Be&#x017F;itz, <note place="foot" n="117)">In Anwendung auf eine <hi rendition="#aq">obligatio naturalis</hi> be&#x017F;tand dies in der<lb/><hi rendition="#aq">soluti retentio</hi> gegenüber der <hi rendition="#aq">condictio indebiti</hi>.</note><lb/>
theils bei einigen Rechten in einem In&#x017F;titut, das den Uebergang<lb/>
der&#x017F;elben in rechtlich anerkannte vermittelte, der U&#x017F;ucapion.<lb/>
Letztere bildet für die&#x017F;e Rechte die Brücke vom &#x017F;ubjektiven Prinzip<lb/>
zum Gebiet des Staats&#x017F;chutzes; &#x017F;ie ver&#x017F;chafft dem vom Stand-<lb/>
punkt des &#x017F;ubjektiven Prinzips aus vorhandenen Recht &#x2014; wir<lb/>
wollen es ein rein &#x017F;ubjektives nennen &#x2014; den Charakter eines<lb/>
öffentlich anerkannten. Eine formlo&#x017F;e öffentliche Anerkennung<lb/>
kann man darin finden, daß jenes Recht längere Zeit hindurch<lb/><note xml:id="seg2pn_13_2" prev="#seg2pn_13_1" place="foot" n="116)"><hi rendition="#aq">fundus, testamento alicujus fieri potest; ut retineam, quod meum factum<lb/>
est, sine jure civili non potest. Fundus a patre relinqui potest, at usu-<lb/>
capio fundi, hoc est finis sollicitudinis ac periculi litium non a patre<lb/>
relinquitur, sed a legibus. Aquaeductus, haustus, iter, actus a patre,<lb/>
sed rata auctoritas harum rerum omnium a jure civili sumitur. &#x2014; Pri-<lb/>
mum illud concedis non quidquid populus jusserit, ratum esse oportere</hi><lb/>
u. &#x017F;. w.</note><lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[212/0230] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. in Anſpruch genommenes Recht ab, ſo heißt das genauer aus- gedrückt: er erklärt bloß die Unzuläſſigkeit der Klage, nicht die Nichtexiſtenz des Rechts ſelbſt. Ebenſo bezieht ſich die geſammte Thätigkeit des Prätors nur auf die Klage; er verleiht, verwei- gert Klagen, ohne daß dadurch das Recht ſelbſt getroffen würde, und wenn er einem Berechtigten die faktiſche Ausübung des Rechts völlig entzogen hätte und ihm jegliche rechtliche Geltend- machung deſſelben verwehrte, das Recht ſelbſt kann er nicht auf- heben. Die ganze Privatrechtspflege auch der ſpätern Zeit weiſt auf dieſen Geſichtspunkt hin. Worin lag nun die praktiſche Realität eines vom Staat nicht anerkannten, aber nach natürlicher Anſicht vorhandenen Rechts? Sie lag theils in der Macht dieſer Anſicht ſelbſt d. h. in der thatſächlichen Anerkennung, die man unter dem Einfluſſe einer ſolchen Rechtsanſchauung einem derartigen Recht zukom- men ließ, theils in der formloſen Selbſthülfe, ſoweit dieſelbe erfolgreich war d. h. in ihrer Richtung auf Schutz im Beſitz, 117) theils bei einigen Rechten in einem Inſtitut, das den Uebergang derſelben in rechtlich anerkannte vermittelte, der Uſucapion. Letztere bildet für dieſe Rechte die Brücke vom ſubjektiven Prinzip zum Gebiet des Staatsſchutzes; ſie verſchafft dem vom Stand- punkt des ſubjektiven Prinzips aus vorhandenen Recht — wir wollen es ein rein ſubjektives nennen — den Charakter eines öffentlich anerkannten. Eine formloſe öffentliche Anerkennung kann man darin finden, daß jenes Recht längere Zeit hindurch 116) 117) In Anwendung auf eine obligatio naturalis beſtand dies in der soluti retentio gegenüber der condictio indebiti. 116) fundus, testamento alicujus fieri potest; ut retineam, quod meum factum est, sine jure civili non potest. Fundus a patre relinqui potest, at usu- capio fundi, hoc est finis sollicitudinis ac periculi litium non a patre relinquitur, sed a legibus. Aquaeductus, haustus, iter, actus a patre, sed rata auctoritas harum rerum omnium a jure civili sumitur. — Pri- mum illud concedis non quidquid populus jusserit, ratum esse oportere u. ſ. w.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/230
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/230>, abgerufen am 15.05.2024.