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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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2. Der Staat -- Stellung außerhalb desselben. §. 16.
umgibt und ihm unentbehrlich ist. Ich erblicke in ihr eins der
wirksamsten Mittel, das die Geschichte für die Bildung und
Erhaltung der Staaten in Bewegung gesetzt hat. Indem näm-
lich jene Ansicht den Staat zum Fundament der gesammten sitt-
lichen Existenz des Individuums macht, ihn in der Wüste der
Rechtlosigkeit und Willkühr als die Oase des Rechts und Frie-
dens erscheinen läßt, treibt sie die Individuen aus dieser Wüste
in den Staat hinein und kettet sie mit eisernen Banden an die-
sen
Staat fest. Er ist ihnen ihr Alles, ihn zu verlassen heißt
sich selbst aufzugeben; sein Sturz bedeckt ihr ganzes Glück mit
Trümmern. An den Austritt aus dem Staat so wie an den Un-
tergang desselben knüpft sich die Aussicht auf den Verlust der Per-
sönlichkeit, den Untergang des gesammten Privatglücks, und so
wird der Selbsterhaltungstrieb des Individuums in doppelter Be-
ziehung eins der wirksamsten Mittel der Erhaltung des Staats
selbst, zuerst nämlich indem er dem Staat die vorhandenen
Kräfte sichert, sodann aber indem er sie bei einer Gefährdung
desselben von außen her auf ihr höchstes Maß spannt. In erste-
rer Beziehung nämlich ist es für den entstehenden Staat sehr
wichtig, von dem verhältnißmäßig geringen Bevölkerungs-
Kapital, mit dem er beginnt, nichts einzubüßen, während es
umgekehrt für den erwachsenen Staat vortheilhaft sein kann,
sich der nicht verwendbaren Ueberschüsse dieses Kapitals durch
Colonien, Auswanderungen u. s. w. zu entledigen. Jener be-
darf eines festen Verschlusses, dieser mitunter eines Ventils,
jener befindet sich in dieser Beziehung in einer weit ungünstige-
ren Lage, als dieser. Während letzterer ein in der Schule der
Zucht und Ordnung aufgewachsenes Volk vorfindet, das mit
tausend Banden in sich und mit ihm verkettet ist, Banden, die
nur das Resultat eines langjährigen Prozesses sind, soll ersterer
die rauhe Schule der Zucht und Ordnung erst beginnen, ohne
dem unbändigen Sinne, der dieser Zucht widerstrebt, ohne dem
Reiz des Wanderlebens, der Versuchung sich von der Gemein-
schaft los zu reißen, ein anderes Gegengewicht gegenüber stellen

2. Der Staat — Stellung außerhalb deſſelben. §. 16.
umgibt und ihm unentbehrlich iſt. Ich erblicke in ihr eins der
wirkſamſten Mittel, das die Geſchichte für die Bildung und
Erhaltung der Staaten in Bewegung geſetzt hat. Indem näm-
lich jene Anſicht den Staat zum Fundament der geſammten ſitt-
lichen Exiſtenz des Individuums macht, ihn in der Wüſte der
Rechtloſigkeit und Willkühr als die Oaſe des Rechts und Frie-
dens erſcheinen läßt, treibt ſie die Individuen aus dieſer Wüſte
in den Staat hinein und kettet ſie mit eiſernen Banden an die-
ſen
Staat feſt. Er iſt ihnen ihr Alles, ihn zu verlaſſen heißt
ſich ſelbſt aufzugeben; ſein Sturz bedeckt ihr ganzes Glück mit
Trümmern. An den Austritt aus dem Staat ſo wie an den Un-
tergang deſſelben knüpft ſich die Ausſicht auf den Verluſt der Per-
ſönlichkeit, den Untergang des geſammten Privatglücks, und ſo
wird der Selbſterhaltungstrieb des Individuums in doppelter Be-
ziehung eins der wirkſamſten Mittel der Erhaltung des Staats
ſelbſt, zuerſt nämlich indem er dem Staat die vorhandenen
Kräfte ſichert, ſodann aber indem er ſie bei einer Gefährdung
deſſelben von außen her auf ihr höchſtes Maß ſpannt. In erſte-
rer Beziehung nämlich iſt es für den entſtehenden Staat ſehr
wichtig, von dem verhältnißmäßig geringen Bevölkerungs-
Kapital, mit dem er beginnt, nichts einzubüßen, während es
umgekehrt für den erwachſenen Staat vortheilhaft ſein kann,
ſich der nicht verwendbaren Ueberſchüſſe dieſes Kapitals durch
Colonien, Auswanderungen u. ſ. w. zu entledigen. Jener be-
darf eines feſten Verſchluſſes, dieſer mitunter eines Ventils,
jener befindet ſich in dieſer Beziehung in einer weit ungünſtige-
ren Lage, als dieſer. Während letzterer ein in der Schule der
Zucht und Ordnung aufgewachſenes Volk vorfindet, das mit
tauſend Banden in ſich und mit ihm verkettet iſt, Banden, die
nur das Reſultat eines langjährigen Prozeſſes ſind, ſoll erſterer
die rauhe Schule der Zucht und Ordnung erſt beginnen, ohne
dem unbändigen Sinne, der dieſer Zucht widerſtrebt, ohne dem
Reiz des Wanderlebens, der Verſuchung ſich von der Gemein-
ſchaft los zu reißen, ein anderes Gegengewicht gegenüber ſtellen

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[223/0241] 2. Der Staat — Stellung außerhalb deſſelben. §. 16. umgibt und ihm unentbehrlich iſt. Ich erblicke in ihr eins der wirkſamſten Mittel, das die Geſchichte für die Bildung und Erhaltung der Staaten in Bewegung geſetzt hat. Indem näm- lich jene Anſicht den Staat zum Fundament der geſammten ſitt- lichen Exiſtenz des Individuums macht, ihn in der Wüſte der Rechtloſigkeit und Willkühr als die Oaſe des Rechts und Frie- dens erſcheinen läßt, treibt ſie die Individuen aus dieſer Wüſte in den Staat hinein und kettet ſie mit eiſernen Banden an die- ſen Staat feſt. Er iſt ihnen ihr Alles, ihn zu verlaſſen heißt ſich ſelbſt aufzugeben; ſein Sturz bedeckt ihr ganzes Glück mit Trümmern. An den Austritt aus dem Staat ſo wie an den Un- tergang deſſelben knüpft ſich die Ausſicht auf den Verluſt der Per- ſönlichkeit, den Untergang des geſammten Privatglücks, und ſo wird der Selbſterhaltungstrieb des Individuums in doppelter Be- ziehung eins der wirkſamſten Mittel der Erhaltung des Staats ſelbſt, zuerſt nämlich indem er dem Staat die vorhandenen Kräfte ſichert, ſodann aber indem er ſie bei einer Gefährdung deſſelben von außen her auf ihr höchſtes Maß ſpannt. In erſte- rer Beziehung nämlich iſt es für den entſtehenden Staat ſehr wichtig, von dem verhältnißmäßig geringen Bevölkerungs- Kapital, mit dem er beginnt, nichts einzubüßen, während es umgekehrt für den erwachſenen Staat vortheilhaft ſein kann, ſich der nicht verwendbaren Ueberſchüſſe dieſes Kapitals durch Colonien, Auswanderungen u. ſ. w. zu entledigen. Jener be- darf eines feſten Verſchluſſes, dieſer mitunter eines Ventils, jener befindet ſich in dieſer Beziehung in einer weit ungünſtige- ren Lage, als dieſer. Während letzterer ein in der Schule der Zucht und Ordnung aufgewachſenes Volk vorfindet, das mit tauſend Banden in ſich und mit ihm verkettet iſt, Banden, die nur das Reſultat eines langjährigen Prozeſſes ſind, ſoll erſterer die rauhe Schule der Zucht und Ordnung erſt beginnen, ohne dem unbändigen Sinne, der dieſer Zucht widerſtrebt, ohne dem Reiz des Wanderlebens, der Verſuchung ſich von der Gemein- ſchaft los zu reißen, ein anderes Gegengewicht gegenüber ſtellen

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/241>, abgerufen am 15.05.2024.