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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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3. Das religiöse Prinzip -- geistliches Gericht. Eid. §. 18.
aufbewahrt gewesen seien. 176) Damit jene übereinstimmende
Tradition von der ausschließlichen Handhabung und Geheim-
haltung des Rechts durch die Pontifices sich bilden konnte,
muß den Pontifices mindestens ein bedeutender Antheil an der
Rechtspflege zugestanden haben, eine Gerichtsbarkeit, die nicht
bloß auf rein religiöse Interessen beschränkt war, sondern ins
bürgerliche Leben, in den privatrechtlichen Verkehr in sehr be-
merklicher Weise eingriff. Es kömmt darauf an, einen Gesichts-
punkt aufzufinden, der diese Ausdehnung der geistlichen Ge-
richtsbarkeit auf profane Geschäfte motivirt, d. h. ein Mittel,
eine Form anzugeben, wodurch diesen Geschäften eine religiöse
Beziehung gegeben und dadurch die Competenz des geistlichen
Gerichts begründet werden konnte. Als ein solches Mittel stellt
sich der promissorische Eid dar; jedem Versprechen, jedem
Rechtsgeschäft kann er als Bestärkungsmittel hinzugefügt wer-
den, und die tägliche Erfahrung lehrt uns den Gebrauch dieses
Mittels. Der Verkehr pflegt namentlich dann und da zu dem-
selben zu greifen, wo er sich durch das Recht in seiner freien
Bewegung gehemmt sieht. 177) Geschäfte, für die keine rechtlich
bindende Form existirt, oder die materiellen Beschränkungen
unterliegen, die dem Verkehr lästig sind, flüchten sich vom Bo-
den des Rechts auf den der Religion, und der Eid erweist sich
trotz des mangelnden äußern Zwanges in der Regel als ein
ebenso wirksames Bindemittel, als das Recht. Den Römern
war von altersher die Anwendung dieses Mittels sehr geläu-
fig. 178) Die Beamte leisteten den Eid auf die Gesetze, die Sol-

176) Rubino a. a. O. S. 225.
177) So im Mittelalter beim Eindringen des römischen Rechts gegen-
über manchen Bestimmungen desselben, die mit den bisherigen Sitten und
Ideen in Widerspruch traten z. B. der Unzulässigkeit der Erbverzichte. Ebenso
gegenüber dem verkehrswidrigen Verbot der Zinsen durch das kanonische
Recht.
178) Auch der assertorische Eid als Mittel zur Entscheidung von Rechts-
streitigkeiten war bei ihnen sowohl in als außer dem Prozeß im ausgedehnte-

3. Das religiöſe Prinzip — geiſtliches Gericht. Eid. §. 18.
aufbewahrt geweſen ſeien. 176) Damit jene übereinſtimmende
Tradition von der ausſchließlichen Handhabung und Geheim-
haltung des Rechts durch die Pontifices ſich bilden konnte,
muß den Pontifices mindeſtens ein bedeutender Antheil an der
Rechtspflege zugeſtanden haben, eine Gerichtsbarkeit, die nicht
bloß auf rein religiöſe Intereſſen beſchränkt war, ſondern ins
bürgerliche Leben, in den privatrechtlichen Verkehr in ſehr be-
merklicher Weiſe eingriff. Es kömmt darauf an, einen Geſichts-
punkt aufzufinden, der dieſe Ausdehnung der geiſtlichen Ge-
richtsbarkeit auf profane Geſchäfte motivirt, d. h. ein Mittel,
eine Form anzugeben, wodurch dieſen Geſchäften eine religiöſe
Beziehung gegeben und dadurch die Competenz des geiſtlichen
Gerichts begründet werden konnte. Als ein ſolches Mittel ſtellt
ſich der promiſſoriſche Eid dar; jedem Verſprechen, jedem
Rechtsgeſchäft kann er als Beſtärkungsmittel hinzugefügt wer-
den, und die tägliche Erfahrung lehrt uns den Gebrauch dieſes
Mittels. Der Verkehr pflegt namentlich dann und da zu dem-
ſelben zu greifen, wo er ſich durch das Recht in ſeiner freien
Bewegung gehemmt ſieht. 177) Geſchäfte, für die keine rechtlich
bindende Form exiſtirt, oder die materiellen Beſchränkungen
unterliegen, die dem Verkehr läſtig ſind, flüchten ſich vom Bo-
den des Rechts auf den der Religion, und der Eid erweiſt ſich
trotz des mangelnden äußern Zwanges in der Regel als ein
ebenſo wirkſames Bindemittel, als das Recht. Den Römern
war von altersher die Anwendung dieſes Mittels ſehr geläu-
fig. 178) Die Beamte leiſteten den Eid auf die Geſetze, die Sol-

176) Rubino a. a. O. S. 225.
177) So im Mittelalter beim Eindringen des römiſchen Rechts gegen-
über manchen Beſtimmungen deſſelben, die mit den bisherigen Sitten und
Ideen in Widerſpruch traten z. B. der Unzuläſſigkeit der Erbverzichte. Ebenſo
gegenüber dem verkehrswidrigen Verbot der Zinſen durch das kanoniſche
Recht.
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ſtreitigkeiten war bei ihnen ſowohl in als außer dem Prozeß im ausgedehnte-
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[263/0281] 3. Das religiöſe Prinzip — geiſtliches Gericht. Eid. §. 18. aufbewahrt geweſen ſeien. 176) Damit jene übereinſtimmende Tradition von der ausſchließlichen Handhabung und Geheim- haltung des Rechts durch die Pontifices ſich bilden konnte, muß den Pontifices mindeſtens ein bedeutender Antheil an der Rechtspflege zugeſtanden haben, eine Gerichtsbarkeit, die nicht bloß auf rein religiöſe Intereſſen beſchränkt war, ſondern ins bürgerliche Leben, in den privatrechtlichen Verkehr in ſehr be- merklicher Weiſe eingriff. Es kömmt darauf an, einen Geſichts- punkt aufzufinden, der dieſe Ausdehnung der geiſtlichen Ge- richtsbarkeit auf profane Geſchäfte motivirt, d. h. ein Mittel, eine Form anzugeben, wodurch dieſen Geſchäften eine religiöſe Beziehung gegeben und dadurch die Competenz des geiſtlichen Gerichts begründet werden konnte. Als ein ſolches Mittel ſtellt ſich der promiſſoriſche Eid dar; jedem Verſprechen, jedem Rechtsgeſchäft kann er als Beſtärkungsmittel hinzugefügt wer- den, und die tägliche Erfahrung lehrt uns den Gebrauch dieſes Mittels. Der Verkehr pflegt namentlich dann und da zu dem- ſelben zu greifen, wo er ſich durch das Recht in ſeiner freien Bewegung gehemmt ſieht. 177) Geſchäfte, für die keine rechtlich bindende Form exiſtirt, oder die materiellen Beſchränkungen unterliegen, die dem Verkehr läſtig ſind, flüchten ſich vom Bo- den des Rechts auf den der Religion, und der Eid erweiſt ſich trotz des mangelnden äußern Zwanges in der Regel als ein ebenſo wirkſames Bindemittel, als das Recht. Den Römern war von altersher die Anwendung dieſes Mittels ſehr geläu- fig. 178) Die Beamte leiſteten den Eid auf die Geſetze, die Sol- 176) Rubino a. a. O. S. 225. 177) So im Mittelalter beim Eindringen des römiſchen Rechts gegen- über manchen Beſtimmungen deſſelben, die mit den bisherigen Sitten und Ideen in Widerſpruch traten z. B. der Unzuläſſigkeit der Erbverzichte. Ebenſo gegenüber dem verkehrswidrigen Verbot der Zinſen durch das kanoniſche Recht. 178) Auch der aſſertoriſche Eid als Mittel zur Entſcheidung von Rechts- ſtreitigkeiten war bei ihnen ſowohl in als außer dem Prozeß im ausgedehnte-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/281>, abgerufen am 22.11.2024.