Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts. sie eingewirkt haben, denn aus den Pontificalbüchern wußte diespätere Zeit, daß unter den Königen von den Straferkenntnis- sen derselben eine Provokation aus Volk Statt gefunden, und ohne praktische Veranlassung hätten jene Bücher diese Notiz nicht aufgenommen. Das Pontificalcollegium muß also in einer uns unbekannten Weise bei der Provokation zugezogen worden sein, und der religiöse Charakter des ältesten Strafrechts, den wir nachher kennen lernen werden, macht es wahrscheinlich, daß diese Mitwirkung nicht bloß auf den Fall der Provokation beschränkt war, sondern überall Statt fand, wo das Verbrechen als ein Frevel gegen die Götter aufgefaßt werden konnte. Ob die selbständige Strafgewalt der Pontifices sich auf die von geistlichen Personen begangenen Verbrechen gegen die Religion beschränkte, ist streitig. 173) Wenn aber der Verführer einer vestalischen Jungfrau von ihnen mit dem Tode bestraft wird, 174) so macht schon dies eine Beispiel eine weitere Ausdehnung ihrer Strafgewalt gewiß. Nach den Berichten späterer Referenten 175) wäre in den er- 173) Geib Geschichte des röm. Kriminalprozesses S. 74 u. flg. ver- theidigt im Widerspruch mit der gangbaren Ansicht die Beschränkung auf den im Text bezeichneten sehr engen Kreis. 174) Livius XXII, 5, 7. 175) Z. B. Pomponius in L. 2 §. 6 de orig. jur. (1. 2) Valer. Max.
II. 5 §. 2. Auch Livius IX, 46 spricht schon von einem jus civile repositum in penetralibus pontificum. Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. ſie eingewirkt haben, denn aus den Pontificalbüchern wußte dieſpätere Zeit, daß unter den Königen von den Straferkenntniſ- ſen derſelben eine Provokation aus Volk Statt gefunden, und ohne praktiſche Veranlaſſung hätten jene Bücher dieſe Notiz nicht aufgenommen. Das Pontificalcollegium muß alſo in einer uns unbekannten Weiſe bei der Provokation zugezogen worden ſein, und der religiöſe Charakter des älteſten Strafrechts, den wir nachher kennen lernen werden, macht es wahrſcheinlich, daß dieſe Mitwirkung nicht bloß auf den Fall der Provokation beſchränkt war, ſondern überall Statt fand, wo das Verbrechen als ein Frevel gegen die Götter aufgefaßt werden konnte. Ob die ſelbſtändige Strafgewalt der Pontifices ſich auf die von geiſtlichen Perſonen begangenen Verbrechen gegen die Religion beſchränkte, iſt ſtreitig. 173) Wenn aber der Verführer einer veſtaliſchen Jungfrau von ihnen mit dem Tode beſtraft wird, 174) ſo macht ſchon dies eine Beiſpiel eine weitere Ausdehnung ihrer Strafgewalt gewiß. Nach den Berichten ſpäterer Referenten 175) wäre in den er- 173) Geib Geſchichte des röm. Kriminalprozeſſes S. 74 u. flg. ver- theidigt im Widerſpruch mit der gangbaren Anſicht die Beſchränkung auf den im Text bezeichneten ſehr engen Kreis. 174) Livius XXII, 5, 7. 175) Z. B. Pomponius in L. 2 §. 6 de orig. jur. (1. 2) Valer. Max.
II. 5 §. 2. Auch Livius IX, 46 ſpricht ſchon von einem jus civile repositum in penetralibus pontificum. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0280" n="262"/><fw place="top" type="header">Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.</fw><lb/> ſie eingewirkt haben, denn aus den Pontificalbüchern wußte die<lb/> ſpätere Zeit, daß unter den Königen von den Straferkenntniſ-<lb/> ſen derſelben eine Provokation aus Volk Statt gefunden, und<lb/> ohne praktiſche Veranlaſſung hätten jene Bücher dieſe Notiz nicht<lb/> aufgenommen. Das Pontificalcollegium muß alſo in einer<lb/> uns unbekannten Weiſe bei der Provokation zugezogen worden<lb/> ſein, und der religiöſe Charakter des älteſten Strafrechts, den<lb/> wir nachher kennen lernen werden, macht es wahrſcheinlich,<lb/> daß dieſe Mitwirkung nicht bloß auf den Fall der Provokation<lb/> beſchränkt war, ſondern überall Statt fand, wo das Verbrechen<lb/> als ein Frevel gegen die Götter aufgefaßt werden konnte. Ob<lb/> die ſelbſtändige Strafgewalt der Pontifices ſich auf die von<lb/> geiſtlichen Perſonen begangenen Verbrechen gegen die Religion<lb/> beſchränkte, iſt ſtreitig. <note place="foot" n="173)">Geib Geſchichte des röm. Kriminalprozeſſes S. 74 u. flg. ver-<lb/> theidigt im Widerſpruch mit der gangbaren Anſicht die Beſchränkung auf den<lb/> im Text bezeichneten ſehr engen Kreis.</note> Wenn aber der Verführer einer<lb/> veſtaliſchen Jungfrau von ihnen mit dem Tode beſtraft wird, <note place="foot" n="174)"><hi rendition="#aq">Livius XXII, 5, 7.</hi></note><lb/> ſo macht ſchon dies eine Beiſpiel eine weitere Ausdehnung ihrer<lb/> Strafgewalt gewiß.</p><lb/> <p>Nach den Berichten ſpäterer Referenten <note place="foot" n="175)">Z. B. <hi rendition="#aq">Pomponius in L. 2 §. 6 de orig. jur. (1. 2) Valer. Max.<lb/> II.</hi> 5 §. 2. Auch <hi rendition="#aq">Livius IX,</hi> 46 ſpricht ſchon von einem <hi rendition="#aq">jus civile repositum<lb/> in penetralibus pontificum.</hi></note> wäre in den er-<lb/> ſten Jahrhunderten der Republik die Kenntniß, Fortbildung<lb/> und Handhabung des Civilrechts <hi rendition="#g">ausſchließlich</hi> bei jenem<lb/> Collegium geweſen. Wenn unſere heutige Kritik dieſer Nach-<lb/> richt keinen Glauben ſchenken will, ſo iſt ſie gewiß inſoweit in<lb/> ihrem Recht, als ſie es für undenkbar erklärt, daß das Recht<lb/> aus einem Gemeingut des Volks eine Geheimlehre der Ponti-<lb/> fices hätte werden ſollen. Andererſeits aber geht ſie zu weit,<lb/> wenn ſie jene Nachricht bloß darauf reduciren will, daß die For-<lb/> mulare für rechtliche Geſchäfte vorzugsweiſe bei den Pontifices<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [262/0280]
Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ſie eingewirkt haben, denn aus den Pontificalbüchern wußte die
ſpätere Zeit, daß unter den Königen von den Straferkenntniſ-
ſen derſelben eine Provokation aus Volk Statt gefunden, und
ohne praktiſche Veranlaſſung hätten jene Bücher dieſe Notiz nicht
aufgenommen. Das Pontificalcollegium muß alſo in einer
uns unbekannten Weiſe bei der Provokation zugezogen worden
ſein, und der religiöſe Charakter des älteſten Strafrechts, den
wir nachher kennen lernen werden, macht es wahrſcheinlich,
daß dieſe Mitwirkung nicht bloß auf den Fall der Provokation
beſchränkt war, ſondern überall Statt fand, wo das Verbrechen
als ein Frevel gegen die Götter aufgefaßt werden konnte. Ob
die ſelbſtändige Strafgewalt der Pontifices ſich auf die von
geiſtlichen Perſonen begangenen Verbrechen gegen die Religion
beſchränkte, iſt ſtreitig. 173) Wenn aber der Verführer einer
veſtaliſchen Jungfrau von ihnen mit dem Tode beſtraft wird, 174)
ſo macht ſchon dies eine Beiſpiel eine weitere Ausdehnung ihrer
Strafgewalt gewiß.
Nach den Berichten ſpäterer Referenten 175) wäre in den er-
ſten Jahrhunderten der Republik die Kenntniß, Fortbildung
und Handhabung des Civilrechts ausſchließlich bei jenem
Collegium geweſen. Wenn unſere heutige Kritik dieſer Nach-
richt keinen Glauben ſchenken will, ſo iſt ſie gewiß inſoweit in
ihrem Recht, als ſie es für undenkbar erklärt, daß das Recht
aus einem Gemeingut des Volks eine Geheimlehre der Ponti-
fices hätte werden ſollen. Andererſeits aber geht ſie zu weit,
wenn ſie jene Nachricht bloß darauf reduciren will, daß die For-
mulare für rechtliche Geſchäfte vorzugsweiſe bei den Pontifices
173) Geib Geſchichte des röm. Kriminalprozeſſes S. 74 u. flg. ver-
theidigt im Widerſpruch mit der gangbaren Anſicht die Beſchränkung auf den
im Text bezeichneten ſehr engen Kreis.
174) Livius XXII, 5, 7.
175) Z. B. Pomponius in L. 2 §. 6 de orig. jur. (1. 2) Valer. Max.
II. 5 §. 2. Auch Livius IX, 46 ſpricht ſchon von einem jus civile repositum
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