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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Das Recht ein Organismus. §. 3.
Gesetzgeber seinen Ursprung verdankt, sondern wie die Sprache
eines Volkes ein innerlich zusammenhängendes Produkt der Ge-
schichte ist. Menschliche Absicht und Berechnung hat freilich
ihren Antheil an der Bildung desselben, aber sie findet mehr,
als daß sie schafft, denn die Verhältnisse, in denen sich das
Gattungsleben der Menschheit bewegt, warten nicht erst auf sie,
daß sie sie aufrichtete und gestaltete. Der Drang des Lebens hat
das Recht mit seinen Anstalten hervorgetrieben und unterhält
dasselbe in unausgesetzter äußerer Wirklichkeit. Die Gestalt, die
die Sinnesart des Volks und seine ganze Lebensweise demselben
aufgedrückt hat, ist das, was jede legislative Reflexion und
Willkühr vorfindet, und woran sie nicht rütteln kann, ohne selbst
zu Schanden zu werden. In steter Abhängigkeit von dem Cha-
rakter, der Bildungsstufe, den materiellen Verhältnissen, den
Schicksalen des Volks verläuft die Bildungsgeschichte des Rechts
und neben den gewaltigen historischen Mächten, die dieselbe
bestimmen, schrumpft die Mitwirkung menschlicher Einsicht,
wenn sie statt Werkzeug Schöpferin sein wollte, in Nichts zu-
sammen.

Die reale, objektive Schöpfung des Rechts, wie sie uns in
der Gestaltung und Bewegung des Lebens und Verkehrs als
verwirklicht erscheint, läßt sich als ein Organismus bezeichnen,
und an dieses Bild des Organismus wollen wir unsere ganze
Betrachtung anknüpfen. Indem wir dieses Bild benutzen, legen
wir damit dem Recht die Eigenschaften eines Naturproduktes
bei, also Einheit in der Vielheit, Individualität, Wachsthum
von innen heraus u. s. w. Diese Vergleichung, die Bezeichnung:
organisch, naturwüchsig u. s. w. ist heutzutage eine sehr beliebte
geworden, aber nicht selten ist sie ein prunkendes Aushängeschild,
hinter dem sich eine ganz mechanische Behandlungsweise verbirgt,
ein Glaubensbekenntniß in Worten, das man im ersten Para-
graphen ablegt, um es nachher durch die That verläugnen zu
dürfen.

Jeder Organismus macht nun eine doppelte Betrachtung

Das Recht ein Organismus. §. 3.
Geſetzgeber ſeinen Urſprung verdankt, ſondern wie die Sprache
eines Volkes ein innerlich zuſammenhängendes Produkt der Ge-
ſchichte iſt. Menſchliche Abſicht und Berechnung hat freilich
ihren Antheil an der Bildung deſſelben, aber ſie findet mehr,
als daß ſie ſchafft, denn die Verhältniſſe, in denen ſich das
Gattungsleben der Menſchheit bewegt, warten nicht erſt auf ſie,
daß ſie ſie aufrichtete und geſtaltete. Der Drang des Lebens hat
das Recht mit ſeinen Anſtalten hervorgetrieben und unterhält
daſſelbe in unausgeſetzter äußerer Wirklichkeit. Die Geſtalt, die
die Sinnesart des Volks und ſeine ganze Lebensweiſe demſelben
aufgedrückt hat, iſt das, was jede legislative Reflexion und
Willkühr vorfindet, und woran ſie nicht rütteln kann, ohne ſelbſt
zu Schanden zu werden. In ſteter Abhängigkeit von dem Cha-
rakter, der Bildungsſtufe, den materiellen Verhältniſſen, den
Schickſalen des Volks verläuft die Bildungsgeſchichte des Rechts
und neben den gewaltigen hiſtoriſchen Mächten, die dieſelbe
beſtimmen, ſchrumpft die Mitwirkung menſchlicher Einſicht,
wenn ſie ſtatt Werkzeug Schöpferin ſein wollte, in Nichts zu-
ſammen.

Die reale, objektive Schöpfung des Rechts, wie ſie uns in
der Geſtaltung und Bewegung des Lebens und Verkehrs als
verwirklicht erſcheint, läßt ſich als ein Organismus bezeichnen,
und an dieſes Bild des Organismus wollen wir unſere ganze
Betrachtung anknüpfen. Indem wir dieſes Bild benutzen, legen
wir damit dem Recht die Eigenſchaften eines Naturproduktes
bei, alſo Einheit in der Vielheit, Individualität, Wachsthum
von innen heraus u. ſ. w. Dieſe Vergleichung, die Bezeichnung:
organiſch, naturwüchſig u. ſ. w. iſt heutzutage eine ſehr beliebte
geworden, aber nicht ſelten iſt ſie ein prunkendes Aushängeſchild,
hinter dem ſich eine ganz mechaniſche Behandlungsweiſe verbirgt,
ein Glaubensbekenntniß in Worten, das man im erſten Para-
graphen ablegt, um es nachher durch die That verläugnen zu
dürfen.

Jeder Organismus macht nun eine doppelte Betrachtung

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[13/0031] Das Recht ein Organismus. §. 3. Geſetzgeber ſeinen Urſprung verdankt, ſondern wie die Sprache eines Volkes ein innerlich zuſammenhängendes Produkt der Ge- ſchichte iſt. Menſchliche Abſicht und Berechnung hat freilich ihren Antheil an der Bildung deſſelben, aber ſie findet mehr, als daß ſie ſchafft, denn die Verhältniſſe, in denen ſich das Gattungsleben der Menſchheit bewegt, warten nicht erſt auf ſie, daß ſie ſie aufrichtete und geſtaltete. Der Drang des Lebens hat das Recht mit ſeinen Anſtalten hervorgetrieben und unterhält daſſelbe in unausgeſetzter äußerer Wirklichkeit. Die Geſtalt, die die Sinnesart des Volks und ſeine ganze Lebensweiſe demſelben aufgedrückt hat, iſt das, was jede legislative Reflexion und Willkühr vorfindet, und woran ſie nicht rütteln kann, ohne ſelbſt zu Schanden zu werden. In ſteter Abhängigkeit von dem Cha- rakter, der Bildungsſtufe, den materiellen Verhältniſſen, den Schickſalen des Volks verläuft die Bildungsgeſchichte des Rechts und neben den gewaltigen hiſtoriſchen Mächten, die dieſelbe beſtimmen, ſchrumpft die Mitwirkung menſchlicher Einſicht, wenn ſie ſtatt Werkzeug Schöpferin ſein wollte, in Nichts zu- ſammen. Die reale, objektive Schöpfung des Rechts, wie ſie uns in der Geſtaltung und Bewegung des Lebens und Verkehrs als verwirklicht erſcheint, läßt ſich als ein Organismus bezeichnen, und an dieſes Bild des Organismus wollen wir unſere ganze Betrachtung anknüpfen. Indem wir dieſes Bild benutzen, legen wir damit dem Recht die Eigenſchaften eines Naturproduktes bei, alſo Einheit in der Vielheit, Individualität, Wachsthum von innen heraus u. ſ. w. Dieſe Vergleichung, die Bezeichnung: organiſch, naturwüchſig u. ſ. w. iſt heutzutage eine ſehr beliebte geworden, aber nicht ſelten iſt ſie ein prunkendes Aushängeſchild, hinter dem ſich eine ganz mechaniſche Behandlungsweiſe verbirgt, ein Glaubensbekenntniß in Worten, das man im erſten Para- graphen ablegt, um es nachher durch die That verläugnen zu dürfen. Jeder Organismus macht nun eine doppelte Betrachtung

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/31>, abgerufen am 29.04.2024.