Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Organisation des Rechts -- die Rechtssätze. §. 3.
die Rechtssätze. Aber wie weit bleiben diese Abstractionen hinter
der Wirklichkeit, der sie entnommen sind, zurück; wie roh und
lückenhaft ist das Bild, das sie uns von derselben gewähren.
Sie gleichen den ersten plastischen Versuchen eines Volkes. So
wenig wie man aus letzteren folgern dürfte, daß Menschen und
Thiere zu jenen Zeiten so ausgesehen hätten, wie sie in diesen
unvollkommnen Nachbildungen erscheinen, so wenig ist die An-
nahme verstattet, daß sämmtliche Rechtsregeln aus der Kind-
heitsperiode eines Volkes ein getreues Bild seines Rechts ge-
währen. In qualitativer sowohl wie quantitativer Hinsicht
bleiben dieselben vielmehr hinter dem Rechte, wie es lebte und
leibte, weit zurück.

Ist dies nicht eine kecke Behauptung? Wie wissen wir denn,
daß das Recht einen andern Umfang und Inhalt gehabt habe,
als die uns erhaltenen Rechtssätze bekunden? Die Sache ist
einfach. Um einen Gegenstand richtig darzustellen, ist eine dop-
pelte Fähigkeit nöthig, nämlich die, ihn getreu in sich aufzuneh-
men und die, ihn getreu wieder zu geben, oder mit andern Wor-
ten Beobachtungsgabe und Darstellungstalent. Auf
das Recht angewandt also ist erforderlich, daß der Darstellende
unter der bunten Hülle der concreten Lebensverhältnisse, aus
denen er die Regel abstrahiren soll, den rechtlichen Kern wahr-
nehme, und sodann daß er denselben entsprechend zu formuliren
verstehe. Wie wir aber in der uns umgebenden äußeren Natur
täglich manche bedeutungsvolle Erscheinung übersehen, und oft
erst ein Zufall den Beobachter aufmerksam macht und zu den
wichtigsten Entdeckungen den Anstoß gibt, so ist dasselbe auch in
der moralischen Welt der Fall, ja es gilt für sie, die nur mit
dem geistigen Auge wahrgenommen werden kann, in einem noch
höheren Grade. Wir finden eine bestimmte Organisation dersel-
ben vor und haben uns an die gleichmäßige Fortdauer derselben
so gewöhnt, daß wir gar nicht auf die Frage kommen, in wie
weit diese Ordnung bloß faktischer, in wie weit sie rechtlicher,
nothwendiger Art sei. Da macht der Zufall, daß Jemand in

Organiſation des Rechts — die Rechtsſätze. §. 3.
die Rechtsſätze. Aber wie weit bleiben dieſe Abſtractionen hinter
der Wirklichkeit, der ſie entnommen ſind, zurück; wie roh und
lückenhaft iſt das Bild, das ſie uns von derſelben gewähren.
Sie gleichen den erſten plaſtiſchen Verſuchen eines Volkes. So
wenig wie man aus letzteren folgern dürfte, daß Menſchen und
Thiere zu jenen Zeiten ſo ausgeſehen hätten, wie ſie in dieſen
unvollkommnen Nachbildungen erſcheinen, ſo wenig iſt die An-
nahme verſtattet, daß ſämmtliche Rechtsregeln aus der Kind-
heitsperiode eines Volkes ein getreues Bild ſeines Rechts ge-
währen. In qualitativer ſowohl wie quantitativer Hinſicht
bleiben dieſelben vielmehr hinter dem Rechte, wie es lebte und
leibte, weit zurück.

Iſt dies nicht eine kecke Behauptung? Wie wiſſen wir denn,
daß das Recht einen andern Umfang und Inhalt gehabt habe,
als die uns erhaltenen Rechtsſätze bekunden? Die Sache iſt
einfach. Um einen Gegenſtand richtig darzuſtellen, iſt eine dop-
pelte Fähigkeit nöthig, nämlich die, ihn getreu in ſich aufzuneh-
men und die, ihn getreu wieder zu geben, oder mit andern Wor-
ten Beobachtungsgabe und Darſtellungstalent. Auf
das Recht angewandt alſo iſt erforderlich, daß der Darſtellende
unter der bunten Hülle der concreten Lebensverhältniſſe, aus
denen er die Regel abſtrahiren ſoll, den rechtlichen Kern wahr-
nehme, und ſodann daß er denſelben entſprechend zu formuliren
verſtehe. Wie wir aber in der uns umgebenden äußeren Natur
täglich manche bedeutungsvolle Erſcheinung überſehen, und oft
erſt ein Zufall den Beobachter aufmerkſam macht und zu den
wichtigſten Entdeckungen den Anſtoß gibt, ſo iſt daſſelbe auch in
der moraliſchen Welt der Fall, ja es gilt für ſie, die nur mit
dem geiſtigen Auge wahrgenommen werden kann, in einem noch
höheren Grade. Wir finden eine beſtimmte Organiſation derſel-
ben vor und haben uns an die gleichmäßige Fortdauer derſelben
ſo gewöhnt, daß wir gar nicht auf die Frage kommen, in wie
weit dieſe Ordnung bloß faktiſcher, in wie weit ſie rechtlicher,
nothwendiger Art ſei. Da macht der Zufall, daß Jemand in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0033" n="15"/><fw place="top" type="header">Organi&#x017F;ation des Rechts &#x2014; die Rechts&#x017F;ätze. §. 3.</fw><lb/>
die Rechts&#x017F;ätze. Aber wie weit bleiben die&#x017F;e Ab&#x017F;tractionen hinter<lb/>
der Wirklichkeit, der &#x017F;ie entnommen &#x017F;ind, zurück; wie roh und<lb/>
lückenhaft i&#x017F;t das Bild, das &#x017F;ie uns von der&#x017F;elben gewähren.<lb/>
Sie gleichen den er&#x017F;ten pla&#x017F;ti&#x017F;chen Ver&#x017F;uchen eines Volkes. So<lb/>
wenig wie man aus letzteren folgern dürfte, daß Men&#x017F;chen und<lb/>
Thiere zu jenen Zeiten &#x017F;o ausge&#x017F;ehen hätten, wie &#x017F;ie in die&#x017F;en<lb/>
unvollkommnen Nachbildungen er&#x017F;cheinen, &#x017F;o wenig i&#x017F;t <hi rendition="#g">die</hi> An-<lb/>
nahme ver&#x017F;tattet, daß &#x017F;ämmtliche Rechtsregeln aus der Kind-<lb/>
heitsperiode eines Volkes ein getreues Bild &#x017F;eines Rechts ge-<lb/>
währen. In qualitativer &#x017F;owohl wie quantitativer Hin&#x017F;icht<lb/>
bleiben die&#x017F;elben vielmehr hinter dem Rechte, wie es lebte und<lb/>
leibte, weit zurück.</p><lb/>
              <p>I&#x017F;t dies nicht eine kecke Behauptung? Wie wi&#x017F;&#x017F;en wir denn,<lb/>
daß das Recht einen andern Umfang und Inhalt gehabt habe,<lb/>
als die uns erhaltenen Rechts&#x017F;ätze bekunden? Die Sache i&#x017F;t<lb/>
einfach. Um einen Gegen&#x017F;tand richtig darzu&#x017F;tellen, i&#x017F;t eine dop-<lb/>
pelte Fähigkeit nöthig, nämlich die, ihn getreu in &#x017F;ich aufzuneh-<lb/>
men und die, ihn getreu wieder zu geben, oder mit andern Wor-<lb/>
ten <hi rendition="#g">Beobachtungsgabe</hi> und <hi rendition="#g">Dar&#x017F;tellungstalent</hi>. Auf<lb/>
das Recht angewandt al&#x017F;o i&#x017F;t erforderlich, daß der Dar&#x017F;tellende<lb/>
unter der bunten Hülle der concreten Lebensverhältni&#x017F;&#x017F;e, aus<lb/>
denen er die Regel ab&#x017F;trahiren &#x017F;oll, den rechtlichen Kern wahr-<lb/>
nehme, und &#x017F;odann daß er den&#x017F;elben ent&#x017F;prechend zu formuliren<lb/>
ver&#x017F;tehe. Wie wir aber in der uns umgebenden äußeren Natur<lb/>
täglich manche bedeutungsvolle Er&#x017F;cheinung über&#x017F;ehen, und oft<lb/>
er&#x017F;t ein Zufall den Beobachter aufmerk&#x017F;am macht und zu den<lb/>
wichtig&#x017F;ten Entdeckungen den An&#x017F;toß gibt, &#x017F;o i&#x017F;t da&#x017F;&#x017F;elbe auch in<lb/>
der morali&#x017F;chen Welt der Fall, ja es gilt für &#x017F;ie, die nur mit<lb/>
dem gei&#x017F;tigen Auge wahrgenommen werden kann, in einem noch<lb/>
höheren Grade. Wir finden eine be&#x017F;timmte Organi&#x017F;ation der&#x017F;el-<lb/>
ben vor und haben uns an die gleichmäßige Fortdauer der&#x017F;elben<lb/>
&#x017F;o gewöhnt, daß wir gar nicht auf die Frage kommen, in wie<lb/>
weit die&#x017F;e Ordnung bloß fakti&#x017F;cher, in wie weit &#x017F;ie rechtlicher,<lb/>
nothwendiger Art &#x017F;ei. Da macht der Zufall, daß Jemand in<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0033] Organiſation des Rechts — die Rechtsſätze. §. 3. die Rechtsſätze. Aber wie weit bleiben dieſe Abſtractionen hinter der Wirklichkeit, der ſie entnommen ſind, zurück; wie roh und lückenhaft iſt das Bild, das ſie uns von derſelben gewähren. Sie gleichen den erſten plaſtiſchen Verſuchen eines Volkes. So wenig wie man aus letzteren folgern dürfte, daß Menſchen und Thiere zu jenen Zeiten ſo ausgeſehen hätten, wie ſie in dieſen unvollkommnen Nachbildungen erſcheinen, ſo wenig iſt die An- nahme verſtattet, daß ſämmtliche Rechtsregeln aus der Kind- heitsperiode eines Volkes ein getreues Bild ſeines Rechts ge- währen. In qualitativer ſowohl wie quantitativer Hinſicht bleiben dieſelben vielmehr hinter dem Rechte, wie es lebte und leibte, weit zurück. Iſt dies nicht eine kecke Behauptung? Wie wiſſen wir denn, daß das Recht einen andern Umfang und Inhalt gehabt habe, als die uns erhaltenen Rechtsſätze bekunden? Die Sache iſt einfach. Um einen Gegenſtand richtig darzuſtellen, iſt eine dop- pelte Fähigkeit nöthig, nämlich die, ihn getreu in ſich aufzuneh- men und die, ihn getreu wieder zu geben, oder mit andern Wor- ten Beobachtungsgabe und Darſtellungstalent. Auf das Recht angewandt alſo iſt erforderlich, daß der Darſtellende unter der bunten Hülle der concreten Lebensverhältniſſe, aus denen er die Regel abſtrahiren ſoll, den rechtlichen Kern wahr- nehme, und ſodann daß er denſelben entſprechend zu formuliren verſtehe. Wie wir aber in der uns umgebenden äußeren Natur täglich manche bedeutungsvolle Erſcheinung überſehen, und oft erſt ein Zufall den Beobachter aufmerkſam macht und zu den wichtigſten Entdeckungen den Anſtoß gibt, ſo iſt daſſelbe auch in der moraliſchen Welt der Fall, ja es gilt für ſie, die nur mit dem geiſtigen Auge wahrgenommen werden kann, in einem noch höheren Grade. Wir finden eine beſtimmte Organiſation derſel- ben vor und haben uns an die gleichmäßige Fortdauer derſelben ſo gewöhnt, daß wir gar nicht auf die Frage kommen, in wie weit dieſe Ordnung bloß faktiſcher, in wie weit ſie rechtlicher, nothwendiger Art ſei. Da macht der Zufall, daß Jemand in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/33
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/33>, abgerufen am 29.04.2024.