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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Psychische Organisation des Rechts. §. 3.
die einzelnen Rechtsinstitute, so groß auch immer ihr logischer
Gegensatz bleiben möge, z. B. das Erbrecht, Obligationenrecht,
die Vormundschaft u. s. w., dennoch zu einer und derselben
Periode etwas gemeinsames, wir wollen sagen, eine gewisse
Aehnlichkeit in ihrem physiognomischen Ausdruck haben, ja daß
dieselbe höher, offensichtlicher sein kann, als die Aehnlichkeit
eines und desselben Institutes in seinen verschiedenen Entwick-
lungsphasen mit sich selbst. 17) Jedenfalls ist völlig unbestreit-
bar, daß die Altersstufe bei aller sonstigen Verschiedenheit der
Individuen eine gewisse Aehnlichkeit im Habitus und Charakter
mit sich führt, einen bestimmten Typus aufprägt.

Wenn wir nun in der Rechtswelt dieselbe Bemerkung ma-
chen, so berechtigt sie uns zu dem Schlusse, daß die gleichmäßi-
gen Erscheinungen, die wir um eine und dieselbe Zeit in den
verschiedenartigsten Instituten wahrnehmen, in derselben Ursache
ihren Grund haben, daß mit andern Worten in dem gesammten
Rechtsorganismus gewisse Kräfte thätig sind, die auf alle einzel-
nen Theile wirken. Die äußere Erscheinung dieser Einwirkung
kann nach Verschiedenheit der Institute verschieden sein; eine und
dieselbe Kraft mag hier so, dort so sich manifestiren. Wer würde
auch die mechanische Gleichheit der Aeußerung erwarten? Wa-
rum sollte nicht auch in der sittlichen Welt so gut wie in der
Natur die Ungleichheit der Aeußerungsform bei Gleichheit der
treibenden Kräfte möglich sein. Daß z. B. die Cultur des römi-
schen Rechts einen Aufschwung nimmt zu derselben Zeit, wo die
römische Freiheit zu siechen beginnt, ist äußerlich ebenso verschie-
den, als wenn im Thale die Bäume blühen und auf den Ber-
gen der Schnee schmilzt -- aber in beiden Fällen war eine

17) Man vergleiche z. B. im römischen Recht die Gestalt der einzel-
nen Rechtsinstitute zur Blüthezeit der Republik mit den neuen Formen, in
denen sie zur Kaiserzeit auftreten, namentlich das Eigenthum (dominium und
in bonis esse) Erbrecht (hereditas und bonorum possessio) Vermächtniß
(legatum und fideicommissum) u. s. w.
Jhering, Geist d. röm. Rechts. 3

Pſychiſche Organiſation des Rechts. §. 3.
die einzelnen Rechtsinſtitute, ſo groß auch immer ihr logiſcher
Gegenſatz bleiben möge, z. B. das Erbrecht, Obligationenrecht,
die Vormundſchaft u. ſ. w., dennoch zu einer und derſelben
Periode etwas gemeinſames, wir wollen ſagen, eine gewiſſe
Aehnlichkeit in ihrem phyſiognomiſchen Ausdruck haben, ja daß
dieſelbe höher, offenſichtlicher ſein kann, als die Aehnlichkeit
eines und deſſelben Inſtitutes in ſeinen verſchiedenen Entwick-
lungsphaſen mit ſich ſelbſt. 17) Jedenfalls iſt völlig unbeſtreit-
bar, daß die Altersſtufe bei aller ſonſtigen Verſchiedenheit der
Individuen eine gewiſſe Aehnlichkeit im Habitus und Charakter
mit ſich führt, einen beſtimmten Typus aufprägt.

Wenn wir nun in der Rechtswelt dieſelbe Bemerkung ma-
chen, ſo berechtigt ſie uns zu dem Schluſſe, daß die gleichmäßi-
gen Erſcheinungen, die wir um eine und dieſelbe Zeit in den
verſchiedenartigſten Inſtituten wahrnehmen, in derſelben Urſache
ihren Grund haben, daß mit andern Worten in dem geſammten
Rechtsorganismus gewiſſe Kräfte thätig ſind, die auf alle einzel-
nen Theile wirken. Die äußere Erſcheinung dieſer Einwirkung
kann nach Verſchiedenheit der Inſtitute verſchieden ſein; eine und
dieſelbe Kraft mag hier ſo, dort ſo ſich manifeſtiren. Wer würde
auch die mechaniſche Gleichheit der Aeußerung erwarten? Wa-
rum ſollte nicht auch in der ſittlichen Welt ſo gut wie in der
Natur die Ungleichheit der Aeußerungsform bei Gleichheit der
treibenden Kräfte möglich ſein. Daß z. B. die Cultur des römi-
ſchen Rechts einen Aufſchwung nimmt zu derſelben Zeit, wo die
römiſche Freiheit zu ſiechen beginnt, iſt äußerlich ebenſo verſchie-
den, als wenn im Thale die Bäume blühen und auf den Ber-
gen der Schnee ſchmilzt — aber in beiden Fällen war eine

17) Man vergleiche z. B. im römiſchen Recht die Geſtalt der einzel-
nen Rechtsinſtitute zur Blüthezeit der Republik mit den neuen Formen, in
denen ſie zur Kaiſerzeit auftreten, namentlich das Eigenthum (dominium und
in bonis esse) Erbrecht (hereditas und bonorum possessio) Vermächtniß
(legatum und fideicommissum) u. ſ. w.
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 3
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[33/0051] Pſychiſche Organiſation des Rechts. §. 3. die einzelnen Rechtsinſtitute, ſo groß auch immer ihr logiſcher Gegenſatz bleiben möge, z. B. das Erbrecht, Obligationenrecht, die Vormundſchaft u. ſ. w., dennoch zu einer und derſelben Periode etwas gemeinſames, wir wollen ſagen, eine gewiſſe Aehnlichkeit in ihrem phyſiognomiſchen Ausdruck haben, ja daß dieſelbe höher, offenſichtlicher ſein kann, als die Aehnlichkeit eines und deſſelben Inſtitutes in ſeinen verſchiedenen Entwick- lungsphaſen mit ſich ſelbſt. 17) Jedenfalls iſt völlig unbeſtreit- bar, daß die Altersſtufe bei aller ſonſtigen Verſchiedenheit der Individuen eine gewiſſe Aehnlichkeit im Habitus und Charakter mit ſich führt, einen beſtimmten Typus aufprägt. Wenn wir nun in der Rechtswelt dieſelbe Bemerkung ma- chen, ſo berechtigt ſie uns zu dem Schluſſe, daß die gleichmäßi- gen Erſcheinungen, die wir um eine und dieſelbe Zeit in den verſchiedenartigſten Inſtituten wahrnehmen, in derſelben Urſache ihren Grund haben, daß mit andern Worten in dem geſammten Rechtsorganismus gewiſſe Kräfte thätig ſind, die auf alle einzel- nen Theile wirken. Die äußere Erſcheinung dieſer Einwirkung kann nach Verſchiedenheit der Inſtitute verſchieden ſein; eine und dieſelbe Kraft mag hier ſo, dort ſo ſich manifeſtiren. Wer würde auch die mechaniſche Gleichheit der Aeußerung erwarten? Wa- rum ſollte nicht auch in der ſittlichen Welt ſo gut wie in der Natur die Ungleichheit der Aeußerungsform bei Gleichheit der treibenden Kräfte möglich ſein. Daß z. B. die Cultur des römi- ſchen Rechts einen Aufſchwung nimmt zu derſelben Zeit, wo die römiſche Freiheit zu ſiechen beginnt, iſt äußerlich ebenſo verſchie- den, als wenn im Thale die Bäume blühen und auf den Ber- gen der Schnee ſchmilzt — aber in beiden Fällen war eine 17) Man vergleiche z. B. im römiſchen Recht die Geſtalt der einzel- nen Rechtsinſtitute zur Blüthezeit der Republik mit den neuen Formen, in denen ſie zur Kaiſerzeit auftreten, namentlich das Eigenthum (dominium und in bonis esse) Erbrecht (hereditas und bonorum possessio) Vermächtniß (legatum und fideicommissum) u. ſ. w. Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 3

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/51>, abgerufen am 04.12.2024.