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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Bestimmbarkeit der Zeit nach system. Kriterien. §. 5.
geschieden, ist es auch der Zeit nach, und systematische Nähe
und Ferne, wenn ich so sagen darf, ist der Maßstab der chro-
nologischen
Entfernung. Das Moment der Zeit erscheint
hier also in vollkommenster Abhängigkeit von dem des Systems,
es bewegt sich, wie ich oben sagte, parallel mit letzterem, und
andererseits gewinnt es wiederum die höchste Weihe, indem es
nichts äußerliches, nicht ein Rahmen des Gegenstandes ist,
sondern sich der Sache selbst incarnirt hat.

Diese Bestimmbarkeit der Zeit nach systematischen Kriterien
ist nun keineswegs auf die Geschichte der Natur beschränkt, son-
dern findet sich eben so gut auf dem Gebiete der moralischen
Welt. Nehmen wir z. B. die Geschichte einer Literatur und
Sprache. Wenn nach Jahrtausenden einem Literarhistoriker und
Sprachforscher die Hauptwerke der deutschen Literatur von An-
beginn derselben bis auf die heutige Zeit in bunter Unordnung
und mit Ausmerzung jeglicher darin enthaltenen Jahreszahlen
übergeben würden, sollte es ihm nicht gelingen, nach systemati-
schen Kriterien die Zeitfolge derselben zu bestimmen und eine
Geschichte der deutschen Sprache und Literatur zu schreiben,
bei der nichts weiter fehlte, als die Jahreszahlen? Und gäbe
man ihm für jede Periode nur einige äußere chronologische
Anhaltspunkte, so würde er auch im Stande sein, die fehlen-
den
Zeitbestimmungen selbst zu machen.

Sollte dasselbe nun nicht auch beim Rechte möglich sein,
sollte man, wenn man verschiedene Phasen eines und desselben
Rechtsinstitutes vor sich hat, nicht an ihnen selbst erkennen kön-
nen, welche die ältere, welche die jüngere ist? Wir wollen dies
näher untersuchen.

Ich werde diese Bestimmung der Zeit nach inneren Kriterien
fortan die innere Chronologie nennen, und ihr als äußere
diejenige entgegensetzen, die nur auf äußeren historischen Zeug-
nissen beruht. Für das Verhältniß beider möchte ich nun im
allgemeinen folgende Regel aufstellen. Je concreter, individuel-
ler ein historisches Ereigniß, je mehr es aus der persönlichen

Beſtimmbarkeit der Zeit nach ſyſtem. Kriterien. §. 5.
geſchieden, iſt es auch der Zeit nach, und ſyſtematiſche Nähe
und Ferne, wenn ich ſo ſagen darf, iſt der Maßſtab der chro-
nologiſchen
Entfernung. Das Moment der Zeit erſcheint
hier alſo in vollkommenſter Abhängigkeit von dem des Syſtems,
es bewegt ſich, wie ich oben ſagte, parallel mit letzterem, und
andererſeits gewinnt es wiederum die höchſte Weihe, indem es
nichts äußerliches, nicht ein Rahmen des Gegenſtandes iſt,
ſondern ſich der Sache ſelbſt incarnirt hat.

Dieſe Beſtimmbarkeit der Zeit nach ſyſtematiſchen Kriterien
iſt nun keineswegs auf die Geſchichte der Natur beſchränkt, ſon-
dern findet ſich eben ſo gut auf dem Gebiete der moraliſchen
Welt. Nehmen wir z. B. die Geſchichte einer Literatur und
Sprache. Wenn nach Jahrtauſenden einem Literarhiſtoriker und
Sprachforſcher die Hauptwerke der deutſchen Literatur von An-
beginn derſelben bis auf die heutige Zeit in bunter Unordnung
und mit Ausmerzung jeglicher darin enthaltenen Jahreszahlen
übergeben würden, ſollte es ihm nicht gelingen, nach ſyſtemati-
ſchen Kriterien die Zeitfolge derſelben zu beſtimmen und eine
Geſchichte der deutſchen Sprache und Literatur zu ſchreiben,
bei der nichts weiter fehlte, als die Jahreszahlen? Und gäbe
man ihm für jede Periode nur einige äußere chronologiſche
Anhaltspunkte, ſo würde er auch im Stande ſein, die fehlen-
den
Zeitbeſtimmungen ſelbſt zu machen.

Sollte daſſelbe nun nicht auch beim Rechte möglich ſein,
ſollte man, wenn man verſchiedene Phaſen eines und deſſelben
Rechtsinſtitutes vor ſich hat, nicht an ihnen ſelbſt erkennen kön-
nen, welche die ältere, welche die jüngere iſt? Wir wollen dies
näher unterſuchen.

Ich werde dieſe Beſtimmung der Zeit nach inneren Kriterien
fortan die innere Chronologie nennen, und ihr als äußere
diejenige entgegenſetzen, die nur auf äußeren hiſtoriſchen Zeug-
niſſen beruht. Für das Verhältniß beider möchte ich nun im
allgemeinen folgende Regel aufſtellen. Je concreter, individuel-
ler ein hiſtoriſches Ereigniß, je mehr es aus der perſönlichen

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[71/0089] Beſtimmbarkeit der Zeit nach ſyſtem. Kriterien. §. 5. geſchieden, iſt es auch der Zeit nach, und ſyſtematiſche Nähe und Ferne, wenn ich ſo ſagen darf, iſt der Maßſtab der chro- nologiſchen Entfernung. Das Moment der Zeit erſcheint hier alſo in vollkommenſter Abhängigkeit von dem des Syſtems, es bewegt ſich, wie ich oben ſagte, parallel mit letzterem, und andererſeits gewinnt es wiederum die höchſte Weihe, indem es nichts äußerliches, nicht ein Rahmen des Gegenſtandes iſt, ſondern ſich der Sache ſelbſt incarnirt hat. Dieſe Beſtimmbarkeit der Zeit nach ſyſtematiſchen Kriterien iſt nun keineswegs auf die Geſchichte der Natur beſchränkt, ſon- dern findet ſich eben ſo gut auf dem Gebiete der moraliſchen Welt. Nehmen wir z. B. die Geſchichte einer Literatur und Sprache. Wenn nach Jahrtauſenden einem Literarhiſtoriker und Sprachforſcher die Hauptwerke der deutſchen Literatur von An- beginn derſelben bis auf die heutige Zeit in bunter Unordnung und mit Ausmerzung jeglicher darin enthaltenen Jahreszahlen übergeben würden, ſollte es ihm nicht gelingen, nach ſyſtemati- ſchen Kriterien die Zeitfolge derſelben zu beſtimmen und eine Geſchichte der deutſchen Sprache und Literatur zu ſchreiben, bei der nichts weiter fehlte, als die Jahreszahlen? Und gäbe man ihm für jede Periode nur einige äußere chronologiſche Anhaltspunkte, ſo würde er auch im Stande ſein, die fehlen- den Zeitbeſtimmungen ſelbſt zu machen. Sollte daſſelbe nun nicht auch beim Rechte möglich ſein, ſollte man, wenn man verſchiedene Phaſen eines und deſſelben Rechtsinſtitutes vor ſich hat, nicht an ihnen ſelbſt erkennen kön- nen, welche die ältere, welche die jüngere iſt? Wir wollen dies näher unterſuchen. Ich werde dieſe Beſtimmung der Zeit nach inneren Kriterien fortan die innere Chronologie nennen, und ihr als äußere diejenige entgegenſetzen, die nur auf äußeren hiſtoriſchen Zeug- niſſen beruht. Für das Verhältniß beider möchte ich nun im allgemeinen folgende Regel aufſtellen. Je concreter, individuel- ler ein hiſtoriſches Ereigniß, je mehr es aus der perſönlichen

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/89>, abgerufen am 04.12.2024.