Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
Wir haben diese Idee jetzt noch nach einer sehr wichtigen Seite hin zu verfolgen, nämlich nach Seiten des Einflusses, den sie auf die Stellung des Richters (worunter ich hier auch den Prätor verstehe) ausgeübt hat. Es ist oben (S. 80) die ältere Civilrechtspflege als eine Rechts maschine bezeichnet, die mit möglichster objektiver Berechenbarkeit, Gleichmäßigkeit und Si- cherheit den Umsatz der abstracten Regel in concrete Wirklichkeit herbeiführen soll. Man könnte den alten Prozeß die dialektische Selbstbewegung des Gesetzes nennen, eine legis actio in die- sem (subjektiv-genitivischen) Sinn. Darin liegt nun nicht bloß eine möglichste Einengung des Richters in prozessualischer Beziehung (modus procedendi), sondern eben sowohl in mate- rieller Beziehung; also eine Gestaltung des Rechts, die den Einfluß des subjektiven Elements möglichst ausschließt. Nicht also bloß die gesetzliche Formulirung des Rechts -- hiervon war schon bei Gelegenheit des Selbständigkeitstriebes die Rede -- sondern ein solcher die formale Realisirbarkeit des Rechts (B. 1 S. 42 ff.) betreffender innerer Zuschnitt der Rechts- sätze, der sie einer rein mechanischen, schablonenartigen An- wendung fähig macht, es dem Richter ebensowohl erspart als verwehrt, sich in das rein Individuelle des ihm vorgelegten Falles zu versenken.
In dieser Weise ist nun das ältere römische Recht gestaltet. Abgesehn von der Beweisfrage, hinsichtlich deren der Richter zu jeder Zeit in Rom durch Regeln verhältnißmäßig sehr wenig be- schränkt war, waren ihm in allen andern Beziehungen die Hände gebunden. Der Gang des Verfahrens schritt in unabwendlicher Gleichmäßigkeit vorwärts, in denselben ein für alle Mal festge- setzten Fristen und gußeisernen Formen, und die geringste Ab- weichung von der Regel z. B. die Ersetzung eines Wortes in der Formel durch ein gleichbedeutendes hatte Nichtigkeit des ganzen Verfahrens zur Folge. 115) Es war dies der Prozeß der
115)Gaj. IV. §. 11 gibt ein bekanntes Beispiel.
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Wir haben dieſe Idee jetzt noch nach einer ſehr wichtigen Seite hin zu verfolgen, nämlich nach Seiten des Einfluſſes, den ſie auf die Stellung des Richters (worunter ich hier auch den Prätor verſtehe) ausgeübt hat. Es iſt oben (S. 80) die ältere Civilrechtspflege als eine Rechts maſchine bezeichnet, die mit möglichſter objektiver Berechenbarkeit, Gleichmäßigkeit und Si- cherheit den Umſatz der abſtracten Regel in concrete Wirklichkeit herbeiführen ſoll. Man könnte den alten Prozeß die dialektiſche Selbſtbewegung des Geſetzes nennen, eine legis actio in die- ſem (ſubjektiv-genitiviſchen) Sinn. Darin liegt nun nicht bloß eine möglichſte Einengung des Richters in prozeſſualiſcher Beziehung (modus procedendi), ſondern eben ſowohl in mate- rieller Beziehung; alſo eine Geſtaltung des Rechts, die den Einfluß des ſubjektiven Elements möglichſt ausſchließt. Nicht alſo bloß die geſetzliche Formulirung des Rechts — hiervon war ſchon bei Gelegenheit des Selbſtändigkeitstriebes die Rede — ſondern ein ſolcher die formale Realiſirbarkeit des Rechts (B. 1 S. 42 ff.) betreffender innerer Zuſchnitt der Rechts- ſätze, der ſie einer rein mechaniſchen, ſchablonenartigen An- wendung fähig macht, es dem Richter ebenſowohl erſpart als verwehrt, ſich in das rein Individuelle des ihm vorgelegten Falles zu verſenken.
In dieſer Weiſe iſt nun das ältere römiſche Recht geſtaltet. Abgeſehn von der Beweisfrage, hinſichtlich deren der Richter zu jeder Zeit in Rom durch Regeln verhältnißmäßig ſehr wenig be- ſchränkt war, waren ihm in allen andern Beziehungen die Hände gebunden. Der Gang des Verfahrens ſchritt in unabwendlicher Gleichmäßigkeit vorwärts, in denſelben ein für alle Mal feſtge- ſetzten Friſten und gußeiſernen Formen, und die geringſte Ab- weichung von der Regel z. B. die Erſetzung eines Wortes in der Formel durch ein gleichbedeutendes hatte Nichtigkeit des ganzen Verfahrens zur Folge. 115) Es war dies der Prozeß der
115)Gaj. IV. §. 11 gibt ein bekanntes Beiſpiel.
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Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Wir haben dieſe Idee jetzt noch nach einer ſehr wichtigen Seite
hin zu verfolgen, nämlich nach Seiten des Einfluſſes, den ſie auf
die Stellung des Richters (worunter ich hier auch den
Prätor verſtehe) ausgeübt hat. Es iſt oben (S. 80) die ältere
Civilrechtspflege als eine Rechts maſchine bezeichnet, die mit
möglichſter objektiver Berechenbarkeit, Gleichmäßigkeit und Si-
cherheit den Umſatz der abſtracten Regel in concrete Wirklichkeit
herbeiführen ſoll. Man könnte den alten Prozeß die dialektiſche
Selbſtbewegung des Geſetzes nennen, eine legis actio in die-
ſem (ſubjektiv-genitiviſchen) Sinn. Darin liegt nun nicht bloß
eine möglichſte Einengung des Richters in prozeſſualiſcher
Beziehung (modus procedendi), ſondern eben ſowohl in mate-
rieller Beziehung; alſo eine Geſtaltung des Rechts, die den
Einfluß des ſubjektiven Elements möglichſt ausſchließt. Nicht alſo
bloß die geſetzliche Formulirung des Rechts — hiervon war
ſchon bei Gelegenheit des Selbſtändigkeitstriebes die Rede —
ſondern ein ſolcher die formale Realiſirbarkeit des Rechts
(B. 1 S. 42 ff.) betreffender innerer Zuſchnitt der Rechts-
ſätze, der ſie einer rein mechaniſchen, ſchablonenartigen An-
wendung fähig macht, es dem Richter ebenſowohl erſpart als
verwehrt, ſich in das rein Individuelle des ihm vorgelegten
Falles zu verſenken.
In dieſer Weiſe iſt nun das ältere römiſche Recht geſtaltet.
Abgeſehn von der Beweisfrage, hinſichtlich deren der Richter zu
jeder Zeit in Rom durch Regeln verhältnißmäßig ſehr wenig be-
ſchränkt war, waren ihm in allen andern Beziehungen die Hände
gebunden. Der Gang des Verfahrens ſchritt in unabwendlicher
Gleichmäßigkeit vorwärts, in denſelben ein für alle Mal feſtge-
ſetzten Friſten und gußeiſernen Formen, und die geringſte Ab-
weichung von der Regel z. B. die Erſetzung eines Wortes in
der Formel durch ein gleichbedeutendes hatte Nichtigkeit des
ganzen Verfahrens zur Folge. 115) Es war dies der Prozeß der
115) Gaj. IV. §. 11 gibt ein bekanntes Beiſpiel.
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/122>, abgerufen am 16.02.2025.
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