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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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II. Der Gleichheitstrieb. -- Stellung des Richters. §. 29.
legis actiones 116) -- ein Ausdruck, der, wie Gajus IV. §. 11
bemerkt, entweder darin seinen Grund habe: quod legis actio-
nes legibus proditae erant, vel ideo quia ipsarum legum
verbis accommodatae erant et ideo immutabiles proinde
atque leges observabantur
.
Der Formularprozeß, den
wir im dritten System kennen lernen werden, wird uns Gele-
genheit geben, durch die Wirkung des Contrastes das ältere
Verfahren in ein helleres Licht zu setzen, als es hier ohne bedeu-
tende Anticipirungen möglich ist.

Auch für das materielle Recht wäre ein Vergleich des gegen-
wärtigen und dritten Systems äußerst instruktiv, aber auch hier
müssen wir auf das dritte Buch verweisen, können jedoch nicht
umhin, wenigstens an zwei gerade besonders lehrreichen Bei-
spielen den Gegensatz des ältern und neuern Rechts zu veran-
schaulichen und die obige Aeußerung über den innern Zu-
schnitt
der Rechtssätze zu erläutern.

Als solches Beispiel diene uns zunächst die rechtliche Be-
handlungsweise der Zeit. Die Fristen des ältern Rechts wurden
continue berechnet d. h. für alle Personen und Verhältnisse
völlig gleich, so daß auf Verhinderung keine Rücksicht genommen
ward, und selbst die Unmöglichkeit der Beachtung der Frist nicht
gegen die nachtheiligen Folgen der Versäumniß schützte. Bei
den Fristen hingegen, die in späterer Zeit der Prätor für seine
Institute einführte, trat die entgegengesetzte Behandlung ein,
sie wurden utiliter d. h. ganz individuell berechnet, die Zeit
also, in der ein Hinderniß für die Vornahme einer Handlung
bestand, nicht in Anschlag gebracht. Dieselbe Tendenz, die sich
hier in einer positiv neuen Bildung ungehindert äußern konnte,
blieb auch für die altcivilrechtlichen Fristen nicht wirkungslos.

116) Einzelne legis actiones sind bereits im ersten Band erwähnt und
an die Ausgangsprinzipien des römischen Rechts angeknüpft, nämlich die
manus injectio und pignoris capio S. 147 ff., die legis actio sacramento
S. 265 ff.

II. Der Gleichheitstrieb. — Stellung des Richters. §. 29.
legis actiones 116) — ein Ausdruck, der, wie Gajus IV. §. 11
bemerkt, entweder darin ſeinen Grund habe: quod legis actio-
nes legibus proditae erant, vel ideo quia ipsarum legum
verbis accommodatae erant et ideo immutabiles proinde
atque leges observabantur
.
Der Formularprozeß, den
wir im dritten Syſtem kennen lernen werden, wird uns Gele-
genheit geben, durch die Wirkung des Contraſtes das ältere
Verfahren in ein helleres Licht zu ſetzen, als es hier ohne bedeu-
tende Anticipirungen möglich iſt.

Auch für das materielle Recht wäre ein Vergleich des gegen-
wärtigen und dritten Syſtems äußerſt inſtruktiv, aber auch hier
müſſen wir auf das dritte Buch verweiſen, können jedoch nicht
umhin, wenigſtens an zwei gerade beſonders lehrreichen Bei-
ſpielen den Gegenſatz des ältern und neuern Rechts zu veran-
ſchaulichen und die obige Aeußerung über den innern Zu-
ſchnitt
der Rechtsſätze zu erläutern.

Als ſolches Beiſpiel diene uns zunächſt die rechtliche Be-
handlungsweiſe der Zeit. Die Friſten des ältern Rechts wurden
continue berechnet d. h. für alle Perſonen und Verhältniſſe
völlig gleich, ſo daß auf Verhinderung keine Rückſicht genommen
ward, und ſelbſt die Unmöglichkeit der Beachtung der Friſt nicht
gegen die nachtheiligen Folgen der Verſäumniß ſchützte. Bei
den Friſten hingegen, die in ſpäterer Zeit der Prätor für ſeine
Inſtitute einführte, trat die entgegengeſetzte Behandlung ein,
ſie wurden utiliter d. h. ganz individuell berechnet, die Zeit
alſo, in der ein Hinderniß für die Vornahme einer Handlung
beſtand, nicht in Anſchlag gebracht. Dieſelbe Tendenz, die ſich
hier in einer poſitiv neuen Bildung ungehindert äußern konnte,
blieb auch für die altcivilrechtlichen Friſten nicht wirkungslos.

116) Einzelne legis actiones ſind bereits im erſten Band erwähnt und
an die Ausgangsprinzipien des römiſchen Rechts angeknüpft, nämlich die
manus injectio und pignoris capio S. 147 ff., die legis actio sacramento
S. 265 ff.
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[109/0123] II. Der Gleichheitstrieb. — Stellung des Richters. §. 29. legis actiones 116) — ein Ausdruck, der, wie Gajus IV. §. 11 bemerkt, entweder darin ſeinen Grund habe: quod legis actio- nes legibus proditae erant, vel ideo quia ipsarum legum verbis accommodatae erant et ideo immutabiles proinde atque leges observabantur. Der Formularprozeß, den wir im dritten Syſtem kennen lernen werden, wird uns Gele- genheit geben, durch die Wirkung des Contraſtes das ältere Verfahren in ein helleres Licht zu ſetzen, als es hier ohne bedeu- tende Anticipirungen möglich iſt. Auch für das materielle Recht wäre ein Vergleich des gegen- wärtigen und dritten Syſtems äußerſt inſtruktiv, aber auch hier müſſen wir auf das dritte Buch verweiſen, können jedoch nicht umhin, wenigſtens an zwei gerade beſonders lehrreichen Bei- ſpielen den Gegenſatz des ältern und neuern Rechts zu veran- ſchaulichen und die obige Aeußerung über den innern Zu- ſchnitt der Rechtsſätze zu erläutern. Als ſolches Beiſpiel diene uns zunächſt die rechtliche Be- handlungsweiſe der Zeit. Die Friſten des ältern Rechts wurden continue berechnet d. h. für alle Perſonen und Verhältniſſe völlig gleich, ſo daß auf Verhinderung keine Rückſicht genommen ward, und ſelbſt die Unmöglichkeit der Beachtung der Friſt nicht gegen die nachtheiligen Folgen der Verſäumniß ſchützte. Bei den Friſten hingegen, die in ſpäterer Zeit der Prätor für ſeine Inſtitute einführte, trat die entgegengeſetzte Behandlung ein, ſie wurden utiliter d. h. ganz individuell berechnet, die Zeit alſo, in der ein Hinderniß für die Vornahme einer Handlung beſtand, nicht in Anſchlag gebracht. Dieſelbe Tendenz, die ſich hier in einer poſitiv neuen Bildung ungehindert äußern konnte, blieb auch für die altcivilrechtlichen Friſten nicht wirkungslos. 116) Einzelne legis actiones ſind bereits im erſten Band erwähnt und an die Ausgangsprinzipien des römiſchen Rechts angeknüpft, nämlich die manus injectio und pignoris capio S. 147 ff., die legis actio sacramento S. 265 ff.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/123>, abgerufen am 24.11.2024.