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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. -- Das System d. Freiheit etc. §. 30.
des Staats ist trotz der glänzenden Maske, durch die sie so gern
zu täuschen sucht, aller jener hochtönenden Phrasen von Volks-
wohl, Verfolgung objektiver Prinzipien, Sittengesetz -- sie ist
und bleibt die wahre Ausgeburt der Willkühr, die Theorie des
Despotismus, möge sie von einer Volksversammlung oder einem
absoluten Monarchen zur Anwendung gebracht werden. Sie
anzunehmen bedeutet für das Individuum einen Verrath an sich
selbst und seiner Bestimmung, einen sittlichen Selbstmord! Die
Persönlichkeit mit ihrem Anrecht auf freie schöpferische Thätig-
keit ist nicht minder von Gottes Gnaden, als der Staat, und es
ist nicht bloß ein Recht, sondern eine heilige Pflicht des Indi-
viduums, dieses Anrecht geltend zu machen und auszuüben.
Aber wie einerseits der Staat dies Recht der Persönlichkeit an-
zuerkennen hat, so umgekehrt auch das Subjekt die in der gött-
lichen Mission des Staats liegenden Rechte. Beide beschränken
sich also gegenseitig, aber sie schließen sich weder aus, noch lei-
ten sie ihre Rechte der eine vom andern ab, der Staat so wenig
das seinige von dem Individuum, wie einst die naturrechtliche
Theorie lehrte, noch das Individuum vom Staat.

Die göttliche Mission des Staats! Ist mit diesem dehn-
baren Begriff nicht die Religion, die Sittlichkeit, der Wohl-
stand, die künstlerische und wissenschaftliche Bildung u. s. w.,
kurz alles, was das Volk sein und werden, haben und leisten
kann, der Obhut und Pflege des Staats anvertraut? Gewiß;
aber alles kommt auf die Art an, wie er jene Mission begreift,
und damit langen wir wieder bei einem bereits berührten Punkt
an. Der Staat kann sie nämlich in der Weise auffassen, daß er
selbst alle jene höchsten Aufgaben des Gattungslebens positiv
und durch Gewalt zu verfolgen habe -- dies ist die Weise,
gegen die das Prinzip der persönlichen Freiheit Protest einlegt,
weil letztere zu einer Arbeit gezwungen wird, in deren frei-
williger
Vollziehung gerade ihre Aufgabe und Ehre besteht --
unser System der Unfreiheit. Den Gegensatz dazu bildet das
bereits oben bezeichnete System der Freiheit, bei dem der Staat

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III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. — Das Syſtem d. Freiheit ꝛc. §. 30.
des Staats iſt trotz der glänzenden Maske, durch die ſie ſo gern
zu täuſchen ſucht, aller jener hochtönenden Phraſen von Volks-
wohl, Verfolgung objektiver Prinzipien, Sittengeſetz — ſie iſt
und bleibt die wahre Ausgeburt der Willkühr, die Theorie des
Despotismus, möge ſie von einer Volksverſammlung oder einem
abſoluten Monarchen zur Anwendung gebracht werden. Sie
anzunehmen bedeutet für das Individuum einen Verrath an ſich
ſelbſt und ſeiner Beſtimmung, einen ſittlichen Selbſtmord! Die
Perſönlichkeit mit ihrem Anrecht auf freie ſchöpferiſche Thätig-
keit iſt nicht minder von Gottes Gnaden, als der Staat, und es
iſt nicht bloß ein Recht, ſondern eine heilige Pflicht des Indi-
viduums, dieſes Anrecht geltend zu machen und auszuüben.
Aber wie einerſeits der Staat dies Recht der Perſönlichkeit an-
zuerkennen hat, ſo umgekehrt auch das Subjekt die in der gött-
lichen Miſſion des Staats liegenden Rechte. Beide beſchränken
ſich alſo gegenſeitig, aber ſie ſchließen ſich weder aus, noch lei-
ten ſie ihre Rechte der eine vom andern ab, der Staat ſo wenig
das ſeinige von dem Individuum, wie einſt die naturrechtliche
Theorie lehrte, noch das Individuum vom Staat.

Die göttliche Miſſion des Staats! Iſt mit dieſem dehn-
baren Begriff nicht die Religion, die Sittlichkeit, der Wohl-
ſtand, die künſtleriſche und wiſſenſchaftliche Bildung u. ſ. w.,
kurz alles, was das Volk ſein und werden, haben und leiſten
kann, der Obhut und Pflege des Staats anvertraut? Gewiß;
aber alles kommt auf die Art an, wie er jene Miſſion begreift,
und damit langen wir wieder bei einem bereits berührten Punkt
an. Der Staat kann ſie nämlich in der Weiſe auffaſſen, daß er
ſelbſt alle jene höchſten Aufgaben des Gattungslebens poſitiv
und durch Gewalt zu verfolgen habe — dies iſt die Weiſe,
gegen die das Prinzip der perſönlichen Freiheit Proteſt einlegt,
weil letztere zu einer Arbeit gezwungen wird, in deren frei-
williger
Vollziehung gerade ihre Aufgabe und Ehre beſteht —
unſer Syſtem der Unfreiheit. Den Gegenſatz dazu bildet das
bereits oben bezeichnete Syſtem der Freiheit, bei dem der Staat

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[131/0145] III. Der Macht- u. Freiheitstrieb. — Das Syſtem d. Freiheit ꝛc. §. 30. des Staats iſt trotz der glänzenden Maske, durch die ſie ſo gern zu täuſchen ſucht, aller jener hochtönenden Phraſen von Volks- wohl, Verfolgung objektiver Prinzipien, Sittengeſetz — ſie iſt und bleibt die wahre Ausgeburt der Willkühr, die Theorie des Despotismus, möge ſie von einer Volksverſammlung oder einem abſoluten Monarchen zur Anwendung gebracht werden. Sie anzunehmen bedeutet für das Individuum einen Verrath an ſich ſelbſt und ſeiner Beſtimmung, einen ſittlichen Selbſtmord! Die Perſönlichkeit mit ihrem Anrecht auf freie ſchöpferiſche Thätig- keit iſt nicht minder von Gottes Gnaden, als der Staat, und es iſt nicht bloß ein Recht, ſondern eine heilige Pflicht des Indi- viduums, dieſes Anrecht geltend zu machen und auszuüben. Aber wie einerſeits der Staat dies Recht der Perſönlichkeit an- zuerkennen hat, ſo umgekehrt auch das Subjekt die in der gött- lichen Miſſion des Staats liegenden Rechte. Beide beſchränken ſich alſo gegenſeitig, aber ſie ſchließen ſich weder aus, noch lei- ten ſie ihre Rechte der eine vom andern ab, der Staat ſo wenig das ſeinige von dem Individuum, wie einſt die naturrechtliche Theorie lehrte, noch das Individuum vom Staat. Die göttliche Miſſion des Staats! Iſt mit dieſem dehn- baren Begriff nicht die Religion, die Sittlichkeit, der Wohl- ſtand, die künſtleriſche und wiſſenſchaftliche Bildung u. ſ. w., kurz alles, was das Volk ſein und werden, haben und leiſten kann, der Obhut und Pflege des Staats anvertraut? Gewiß; aber alles kommt auf die Art an, wie er jene Miſſion begreift, und damit langen wir wieder bei einem bereits berührten Punkt an. Der Staat kann ſie nämlich in der Weiſe auffaſſen, daß er ſelbſt alle jene höchſten Aufgaben des Gattungslebens poſitiv und durch Gewalt zu verfolgen habe — dies iſt die Weiſe, gegen die das Prinzip der perſönlichen Freiheit Proteſt einlegt, weil letztere zu einer Arbeit gezwungen wird, in deren frei- williger Vollziehung gerade ihre Aufgabe und Ehre beſteht — unſer Syſtem der Unfreiheit. Den Gegenſatz dazu bildet das bereits oben bezeichnete Syſtem der Freiheit, bei dem der Staat 9*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/145>, abgerufen am 21.11.2024.