Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. einerlei. Es ist nicht nöthig, daß alles, was unterbleiben soll,gerade durch das Gesetz verboten werde, die Sitte kann hier dasselbe wirken, wie das Gesetz. Ja es gibt Verhältnisse und Zeiten, wo die Sitte eine weit höhere Macht ausübt, als an- derwärts das Gesetz; 160) eine solche Zeit war die, in der wir gegenwärtig stehen. Gerade im System der Freiheit scheint die Sitte das beste Gedeihen zu haben, oder richtiger, das System der Freiheit ist auf die Dauer nur da haltbar, wo die Sitte stark genug ist, den gesetzlichen Zwang zu ersetzen, und vorzugsweise bei den Völkern, bei denen jenes System zur höchsten Entwick- lung gekommen ist, findet sich als Gegengewicht und Tempera- ment derselben eine strenge, ja oft despotische Herrschaft der Sitte. 161) Die Sitte ist die Selbstbeschränkung der Freiheit; wo sie nicht kräftig entwickelt und gut organisirt ist, wo nicht die öffentliche Meinung den würdigen Gebrauch der Freiheit zu einem Ehrenpunkt zu erheben und ihn zu erzwin- gen versteht, da kann die Freiheit nicht gedeihen. Die Mittel, über die die Sitte in Rom gebot, waren außer- 160) Der bekannte Ausspruch von Tacitus: Plusque valent ibi boni mores, quam alibi bonae leges. 161) z. B. in England, Nordamerika, wo dies von manchen Anhängern der abstracten Freiheit nicht selten mit naivem Erstaunen und großer Unbe- haglichkeit vermerkt worden ist. 162) Cic. pro Rosc. c. 6 ... nennt die Frage von der Infamie eine summae existimationis et paene dicam capitis (Existenzfrage), pro Quint. c. 8. capitis causa. 163) Savigny System B. 2. §. 79--81.
Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. einerlei. Es iſt nicht nöthig, daß alles, was unterbleiben ſoll,gerade durch das Geſetz verboten werde, die Sitte kann hier daſſelbe wirken, wie das Geſetz. Ja es gibt Verhältniſſe und Zeiten, wo die Sitte eine weit höhere Macht ausübt, als an- derwärts das Geſetz; 160) eine ſolche Zeit war die, in der wir gegenwärtig ſtehen. Gerade im Syſtem der Freiheit ſcheint die Sitte das beſte Gedeihen zu haben, oder richtiger, das Syſtem der Freiheit iſt auf die Dauer nur da haltbar, wo die Sitte ſtark genug iſt, den geſetzlichen Zwang zu erſetzen, und vorzugsweiſe bei den Völkern, bei denen jenes Syſtem zur höchſten Entwick- lung gekommen iſt, findet ſich als Gegengewicht und Tempera- ment derſelben eine ſtrenge, ja oft despotiſche Herrſchaft der Sitte. 161) Die Sitte iſt die Selbſtbeſchränkung der Freiheit; wo ſie nicht kräftig entwickelt und gut organiſirt iſt, wo nicht die öffentliche Meinung den würdigen Gebrauch der Freiheit zu einem Ehrenpunkt zu erheben und ihn zu erzwin- gen verſteht, da kann die Freiheit nicht gedeihen. Die Mittel, über die die Sitte in Rom gebot, waren außer- 160) Der bekannte Ausſpruch von Tacitus: Plusque valent ibi boni mores, quam alibi bonae leges. 161) z. B. in England, Nordamerika, wo dies von manchen Anhängern der abſtracten Freiheit nicht ſelten mit naivem Erſtaunen und großer Unbe- haglichkeit vermerkt worden iſt. 162) Cic. pro Rosc. c. 6 … nennt die Frage von der Infamie eine summae existimationis et paene dicam capitis (Exiſtenzfrage), pro Quint. c. 8. capitis causa. 163) Savigny Syſtem B. 2. §. 79—81.
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Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
einerlei. Es iſt nicht nöthig, daß alles, was unterbleiben ſoll,
gerade durch das Geſetz verboten werde, die Sitte kann hier
daſſelbe wirken, wie das Geſetz. Ja es gibt Verhältniſſe und
Zeiten, wo die Sitte eine weit höhere Macht ausübt, als an-
derwärts das Geſetz; 160) eine ſolche Zeit war die, in der wir
gegenwärtig ſtehen. Gerade im Syſtem der Freiheit ſcheint die
Sitte das beſte Gedeihen zu haben, oder richtiger, das Syſtem
der Freiheit iſt auf die Dauer nur da haltbar, wo die Sitte ſtark
genug iſt, den geſetzlichen Zwang zu erſetzen, und vorzugsweiſe
bei den Völkern, bei denen jenes Syſtem zur höchſten Entwick-
lung gekommen iſt, findet ſich als Gegengewicht und Tempera-
ment derſelben eine ſtrenge, ja oft despotiſche Herrſchaft der
Sitte. 161) Die Sitte iſt die Selbſtbeſchränkung der
Freiheit; wo ſie nicht kräftig entwickelt und gut organiſirt iſt,
wo nicht die öffentliche Meinung den würdigen Gebrauch der
Freiheit zu einem Ehrenpunkt zu erheben und ihn zu erzwin-
gen verſteht, da kann die Freiheit nicht gedeihen.
Die Mittel, über die die Sitte in Rom gebot, waren außer-
ordentlich wirkſame. Die natürliche Beſchützerin der Sitte, die
öffentliche Meinung, war hier weit machtvoller, als irgendwo
anders. Das reguläre Mittel, das ihr zu ihrer Geltendmachung
zuſteht, iſt die ſittliche Strafgewalt, die ſie ausübt, nament-
lich vermittelſt der Ehrenſtrafen. In Rom ließ die Wirk-
ſamkeit dieſes Mittels nichts zu wünſchen übrig, 162) denn die
römiſche Ehrenſtrafe, die infamia, hatte den Verluſt aller poli-
tiſchen Rechte zur Folge; 163) was aber politiſcher Tod für einen
160) Der bekannte Ausſpruch von Tacitus: Plusque valent ibi boni
mores, quam alibi bonae leges.
161) z. B. in England, Nordamerika, wo dies von manchen Anhängern
der abſtracten Freiheit nicht ſelten mit naivem Erſtaunen und großer Unbe-
haglichkeit vermerkt worden iſt.
162) Cic. pro Rosc. c. 6 … nennt die Frage von der Infamie eine
summae existimationis et paene dicam capitis (Exiſtenzfrage), pro Quint.
c. 8. capitis causa.
163) Savigny Syſtem B. 2. §. 79—81.
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