Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.A. Stellung des Indiv. Beschränkung durch die Sitte. §. 31. Römer bedeutete, brauche ich nicht zu bemerken. Zu diesem re-gulären Mittel kamen nun in Rom manche eigenthümliche und zwar höchst wirksame hinzu. Zunächst das dem Volke zustehende Recht der Wahl der Beamten. Bei uns kann Jemand, der mit der öffentlichen Meinung gebrochen hat, zu Macht und Einfluß gelan- gen; bei den Römern war dies in älterer Zeit undenkbar. Wer sich in seinem Privatleben sowohl wie in seinem öffentlichen Auftreten über die öffentliche Meinung hinweggesetzt hatte, war in Rom verloren. Bei der Oeffentlichkeit, die das ganze rö- mische Leben durchdrang, bei der Geschäftigkeit der Gegner und Mitbewerber mußte in Rom jeder, der ein öffentliches Amt vom Volke begehrte, darauf rechnen, daß seine ganze Vergan- genheit den Augen und der Kritik des Volks bloß gelegt wurde, und wer sich der Gunst desselben unwürdig erwiesen hatte, was hatte der zu hoffen? Rohheit und Grausamkeit gegen Frau, Kinder, Sklaven, Unbarmherzigkeit gegen Schuldner, die durch Unglücksfälle insolvent geworden waren, kurz Handlungen, die dem Recht nach durchaus erlaubt waren, aber die die Volks- stimme mißbilligte, die Sitte untersagte, fielen hier schwer ins Gewicht. Der schlagendste Beweis hierfür liegt in dem Insti- tut der Censur, dem dritten Mittel, über das die öffentliche Meinung disponirte. Wie empfindlich mußte das römische Sittlichkeitsgefühl sein, welches Gewicht mußten die Römer auf das moralische Moment legen, wenn sie trotz der höchst wirksamen sonstigen Mittel zum Schutz der Sitte noch die Censur für nöthig hielten und willig ertrugen! Die Fälle, in denen der Censor einschritt (S. 50), gewähren uns Auskunft darüber, was in den Augen des Volks als anstößig galt und mithin von demselben in Anschlag gebracht ward, wo es selbst den sittlichen Charakter eines Bürgers zu beurtheilen hatte. Außer den Wahlcomitien fand sich dazu Gelegenheit in den Volksgerichten, und in letzteren besaß die öffentliche Meinung viel- leicht das wirksamste Mittel zu ihrer Realisirung. Um das ganze Gewicht desselben zu würdigen, muß man sich der eigenthümli- 10*
A. Stellung des Indiv. Beſchränkung durch die Sitte. §. 31. Römer bedeutete, brauche ich nicht zu bemerken. Zu dieſem re-gulären Mittel kamen nun in Rom manche eigenthümliche und zwar höchſt wirkſame hinzu. Zunächſt das dem Volke zuſtehende Recht der Wahl der Beamten. Bei uns kann Jemand, der mit der öffentlichen Meinung gebrochen hat, zu Macht und Einfluß gelan- gen; bei den Römern war dies in älterer Zeit undenkbar. Wer ſich in ſeinem Privatleben ſowohl wie in ſeinem öffentlichen Auftreten über die öffentliche Meinung hinweggeſetzt hatte, war in Rom verloren. Bei der Oeffentlichkeit, die das ganze rö- miſche Leben durchdrang, bei der Geſchäftigkeit der Gegner und Mitbewerber mußte in Rom jeder, der ein öffentliches Amt vom Volke begehrte, darauf rechnen, daß ſeine ganze Vergan- genheit den Augen und der Kritik des Volks bloß gelegt wurde, und wer ſich der Gunſt deſſelben unwürdig erwieſen hatte, was hatte der zu hoffen? Rohheit und Grauſamkeit gegen Frau, Kinder, Sklaven, Unbarmherzigkeit gegen Schuldner, die durch Unglücksfälle inſolvent geworden waren, kurz Handlungen, die dem Recht nach durchaus erlaubt waren, aber die die Volks- ſtimme mißbilligte, die Sitte unterſagte, fielen hier ſchwer ins Gewicht. Der ſchlagendſte Beweis hierfür liegt in dem Inſti- tut der Cenſur, dem dritten Mittel, über das die öffentliche Meinung disponirte. Wie empfindlich mußte das römiſche Sittlichkeitsgefühl ſein, welches Gewicht mußten die Römer auf das moraliſche Moment legen, wenn ſie trotz der höchſt wirkſamen ſonſtigen Mittel zum Schutz der Sitte noch die Cenſur für nöthig hielten und willig ertrugen! Die Fälle, in denen der Cenſor einſchritt (S. 50), gewähren uns Auskunft darüber, was in den Augen des Volks als anſtößig galt und mithin von demſelben in Anſchlag gebracht ward, wo es ſelbſt den ſittlichen Charakter eines Bürgers zu beurtheilen hatte. Außer den Wahlcomitien fand ſich dazu Gelegenheit in den Volksgerichten, und in letzteren beſaß die öffentliche Meinung viel- leicht das wirkſamſte Mittel zu ihrer Realiſirung. Um das ganze Gewicht deſſelben zu würdigen, muß man ſich der eigenthümli- 10*
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A. Stellung des Indiv. Beſchränkung durch die Sitte. §. 31.
Römer bedeutete, brauche ich nicht zu bemerken. Zu dieſem re-
gulären Mittel kamen nun in Rom manche eigenthümliche und
zwar höchſt wirkſame hinzu. Zunächſt das dem Volke zuſtehende
Recht der Wahl der Beamten. Bei uns kann Jemand, der mit der
öffentlichen Meinung gebrochen hat, zu Macht und Einfluß gelan-
gen; bei den Römern war dies in älterer Zeit undenkbar. Wer
ſich in ſeinem Privatleben ſowohl wie in ſeinem öffentlichen
Auftreten über die öffentliche Meinung hinweggeſetzt hatte, war
in Rom verloren. Bei der Oeffentlichkeit, die das ganze rö-
miſche Leben durchdrang, bei der Geſchäftigkeit der Gegner und
Mitbewerber mußte in Rom jeder, der ein öffentliches Amt
vom Volke begehrte, darauf rechnen, daß ſeine ganze Vergan-
genheit den Augen und der Kritik des Volks bloß gelegt wurde,
und wer ſich der Gunſt deſſelben unwürdig erwieſen hatte, was
hatte der zu hoffen? Rohheit und Grauſamkeit gegen Frau,
Kinder, Sklaven, Unbarmherzigkeit gegen Schuldner, die durch
Unglücksfälle inſolvent geworden waren, kurz Handlungen, die
dem Recht nach durchaus erlaubt waren, aber die die Volks-
ſtimme mißbilligte, die Sitte unterſagte, fielen hier ſchwer ins
Gewicht. Der ſchlagendſte Beweis hierfür liegt in dem Inſti-
tut der Cenſur, dem dritten Mittel, über das die öffentliche
Meinung disponirte. Wie empfindlich mußte das römiſche
Sittlichkeitsgefühl ſein, welches Gewicht mußten die Römer
auf das moraliſche Moment legen, wenn ſie trotz der höchſt
wirkſamen ſonſtigen Mittel zum Schutz der Sitte noch die
Cenſur für nöthig hielten und willig ertrugen! Die Fälle, in
denen der Cenſor einſchritt (S. 50), gewähren uns Auskunft
darüber, was in den Augen des Volks als anſtößig galt und
mithin von demſelben in Anſchlag gebracht ward, wo es ſelbſt
den ſittlichen Charakter eines Bürgers zu beurtheilen hatte.
Außer den Wahlcomitien fand ſich dazu Gelegenheit in den
Volksgerichten, und in letzteren beſaß die öffentliche Meinung viel-
leicht das wirkſamſte Mittel zu ihrer Realiſirung. Um das ganze
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