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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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A. Stellung des Indiv. Beschränkung durch die Sitte. §. 31.
schaft, die ihm den Schutz desselben verlieh, außer Acht gelassen
hatte.

Wie schrumpft nun aber, wenn man sich dies alles verge-
genwärtigt, jene abstracte Freiheit des Privatrechts zusammen,
oder richtiger gesagt wie sehr verliert sie das Unnatürliche, durch
das sie uns bei oberflächlicher Betrachtung so sehr abstößt. Die
leere Tafel der abstracten Freiheit bedeckt sich mit allerhand
Limitationen, Voraussetzungen, Beschränkungen, die nicht min-
der wirksam sind, als wenn das Gesetz selbst sie aufgestellt hätte.
Die energische Kraft der Sitte, der Censor, die Wahlcomitien,
die Volksgerichte, das gesammte römische Leben mit allen sei-
nen thatsächlichen Gewalten bildet den in der Regel übersehe-
nen Subtrahend des abstracten Rechts, und wir brauchen nur
die Subtraction vorzunehmen, um ein sehr verständiges prak-
tisches Resultat zu gewinnen. Dasselbe lautet folgendermaßen.
Der Einzelne hat die ihm anvertraute absolute Gewalt nur zum
Zweck des richtigen, nicht zum Zweck des rein willkühr-
lichen
Gebrauchs. Der Staat verbietet aber den Mißbrauch
nur soweit, als derselbe absolut und unbedingt verwerflich
ist, d. h. solche Aeußerungen der subjektiven Gewalt, die schlecht-
hin, mögen die Voraussetzungen sein, welche sie wollen, 165)
nicht zu dulden sind, nicht aber diejenigen, die nur hypothe-
tisch
sich als Mißbrauch qualificiren lassen. 166) Um sie zu
verbieten, müßte das Gesetz in ein unübersehbares Detail
von Voraussetzungen und Möglichkeiten eingehen und würde
doch Gefahr laufen, bald zu wenig, bald zu viel zu thun.

165) Derartige Beschränkungen sind die über den Verschwender verhängte
Entziehung der Vermögensverwaltung, die Beschränkung des dem Vater zu-
stehenden Rechts, den Sohn zu verkaufen, auf dreimalige Ausübung, das
Zinsmaximum u. a. m.
166) z. B. Verhängung der Todesstrafe über den Sohn von Seiten des
Vaters, Auflösung der Ehe von Seiten des Mannes u. s. w. können durch-
aus gerechtfertigt und umgekehrt gar nicht zu entschuldigen sein; jenes, wenn
der Sohn ein todeswürdiges Verbrechen begangen, die Frau die Ehe ge-
brochen, dieses, wenn gar kein oder kein hinreichender Grund vorliegt.

A. Stellung des Indiv. Beſchränkung durch die Sitte. §. 31.
ſchaft, die ihm den Schutz deſſelben verlieh, außer Acht gelaſſen
hatte.

Wie ſchrumpft nun aber, wenn man ſich dies alles verge-
genwärtigt, jene abſtracte Freiheit des Privatrechts zuſammen,
oder richtiger geſagt wie ſehr verliert ſie das Unnatürliche, durch
das ſie uns bei oberflächlicher Betrachtung ſo ſehr abſtößt. Die
leere Tafel der abſtracten Freiheit bedeckt ſich mit allerhand
Limitationen, Vorausſetzungen, Beſchränkungen, die nicht min-
der wirkſam ſind, als wenn das Geſetz ſelbſt ſie aufgeſtellt hätte.
Die energiſche Kraft der Sitte, der Cenſor, die Wahlcomitien,
die Volksgerichte, das geſammte römiſche Leben mit allen ſei-
nen thatſächlichen Gewalten bildet den in der Regel überſehe-
nen Subtrahend des abſtracten Rechts, und wir brauchen nur
die Subtraction vorzunehmen, um ein ſehr verſtändiges prak-
tiſches Reſultat zu gewinnen. Daſſelbe lautet folgendermaßen.
Der Einzelne hat die ihm anvertraute abſolute Gewalt nur zum
Zweck des richtigen, nicht zum Zweck des rein willkühr-
lichen
Gebrauchs. Der Staat verbietet aber den Mißbrauch
nur ſoweit, als derſelbe abſolut und unbedingt verwerflich
iſt, d. h. ſolche Aeußerungen der ſubjektiven Gewalt, die ſchlecht-
hin, mögen die Vorausſetzungen ſein, welche ſie wollen, 165)
nicht zu dulden ſind, nicht aber diejenigen, die nur hypothe-
tiſch
ſich als Mißbrauch qualificiren laſſen. 166) Um ſie zu
verbieten, müßte das Geſetz in ein unüberſehbares Detail
von Vorausſetzungen und Möglichkeiten eingehen und würde
doch Gefahr laufen, bald zu wenig, bald zu viel zu thun.

165) Derartige Beſchränkungen ſind die über den Verſchwender verhängte
Entziehung der Vermögensverwaltung, die Beſchränkung des dem Vater zu-
ſtehenden Rechts, den Sohn zu verkaufen, auf dreimalige Ausübung, das
Zinsmaximum u. a. m.
166) z. B. Verhängung der Todesſtrafe über den Sohn von Seiten des
Vaters, Auflöſung der Ehe von Seiten des Mannes u. ſ. w. können durch-
aus gerechtfertigt und umgekehrt gar nicht zu entſchuldigen ſein; jenes, wenn
der Sohn ein todeswürdiges Verbrechen begangen, die Frau die Ehe ge-
brochen, dieſes, wenn gar kein oder kein hinreichender Grund vorliegt.
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[149/0163] A. Stellung des Indiv. Beſchränkung durch die Sitte. §. 31. ſchaft, die ihm den Schutz deſſelben verlieh, außer Acht gelaſſen hatte. Wie ſchrumpft nun aber, wenn man ſich dies alles verge- genwärtigt, jene abſtracte Freiheit des Privatrechts zuſammen, oder richtiger geſagt wie ſehr verliert ſie das Unnatürliche, durch das ſie uns bei oberflächlicher Betrachtung ſo ſehr abſtößt. Die leere Tafel der abſtracten Freiheit bedeckt ſich mit allerhand Limitationen, Vorausſetzungen, Beſchränkungen, die nicht min- der wirkſam ſind, als wenn das Geſetz ſelbſt ſie aufgeſtellt hätte. Die energiſche Kraft der Sitte, der Cenſor, die Wahlcomitien, die Volksgerichte, das geſammte römiſche Leben mit allen ſei- nen thatſächlichen Gewalten bildet den in der Regel überſehe- nen Subtrahend des abſtracten Rechts, und wir brauchen nur die Subtraction vorzunehmen, um ein ſehr verſtändiges prak- tiſches Reſultat zu gewinnen. Daſſelbe lautet folgendermaßen. Der Einzelne hat die ihm anvertraute abſolute Gewalt nur zum Zweck des richtigen, nicht zum Zweck des rein willkühr- lichen Gebrauchs. Der Staat verbietet aber den Mißbrauch nur ſoweit, als derſelbe abſolut und unbedingt verwerflich iſt, d. h. ſolche Aeußerungen der ſubjektiven Gewalt, die ſchlecht- hin, mögen die Vorausſetzungen ſein, welche ſie wollen, 165) nicht zu dulden ſind, nicht aber diejenigen, die nur hypothe- tiſch ſich als Mißbrauch qualificiren laſſen. 166) Um ſie zu verbieten, müßte das Geſetz in ein unüberſehbares Detail von Vorausſetzungen und Möglichkeiten eingehen und würde doch Gefahr laufen, bald zu wenig, bald zu viel zu thun. 165) Derartige Beſchränkungen ſind die über den Verſchwender verhängte Entziehung der Vermögensverwaltung, die Beſchränkung des dem Vater zu- ſtehenden Rechts, den Sohn zu verkaufen, auf dreimalige Ausübung, das Zinsmaximum u. a. m. 166) z. B. Verhängung der Todesſtrafe über den Sohn von Seiten des Vaters, Auflöſung der Ehe von Seiten des Mannes u. ſ. w. können durch- aus gerechtfertigt und umgekehrt gar nicht zu entſchuldigen ſein; jenes, wenn der Sohn ein todeswürdiges Verbrechen begangen, die Frau die Ehe ge- brochen, dieſes, wenn gar kein oder kein hinreichender Grund vorliegt.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/163>, abgerufen am 23.11.2024.