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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Ein richtiges Urtheil hierüber ist nur im concreten Fall mög-
lich, bleibt also dem Urtheil des Subjekts überlassen. Ein
Mißbrauch dieses dem Subjekt geschenkten Vertrauens wird
zwar nicht durch das Gesetz verhindert oder bestraft, aber die
Stelle des todten Gesetzes vertritt hier als lebendiges Gesetz,
das sich ganz dem concreten Fall anschmiegt, der Censor, das
Volk und, wie wir unten sehen werden, hinsichtlich der fami-
lienrechtlichen Gewalten, die Familie.

Daß die subjektive Freiheit nicht aus einer solchen Anschau-
ung hervorgegangen sein mag, gebe ich gern zu, ist aber
völlig gleichgültig; genug in der Blüthezeit der Republik er-
scheint sie thatsächlich in dieser Weise moderirt und sittlich ge-
rechtfertigt, und wir werden bei einem ihrer Hauptausflüsse, der
hausherrlichen Gewalt, die beste Gelegenheit haben, zu zeigen,
wie weit die wahre praktische Gestalt des Verhältnisses von der
abstracten juristischen Formulirung abwich. Daher erschien
denn, um ein Beispiel für eine frühere Behauptung zu geben,
die patria potestas einem Römer, der dieselbe aus dem Leben
kannte, nicht als das nackte und in seiner Nacktheit unsittliche
Recht, die Kinder zu verkaufen, enterben, tödten u. s. w., son-
dern als eine durch die thatsächlichen Voraussetzungen des Le-
bens begränzte und bestimmte Erziehungsgewalt und
Oberhoheit des Vaters. Ja das rechtliche und sittliche Element
des Instituts waren hier für die gewöhnliche Vorstellung gewiß
so miteinander verwachsen, und im natürlichen Lauf der Dinge
kam auch ein Anlaß, sie scharf zu trennen, so selten vor, daß bei
einzelnen Einrichtungen wenigstens der Laie zweifelhaft sein
konnte, ob das Recht oder die Sitte es so mit sich bringe. Einen
eklatanten Beleg für diese Behauptung gibt das römische Famili-
engericht, ein Institut, dessen amphibienartige Natur unverkenn-
bar ist und unseren Rechtshistorikern bei dem von vornherein
verkehrten Versuch, die sich daran knüpfenden Fragen in juristi-
scher
Weise d. h. als Rechts fragen zu behandeln und scharf
zu beantworten, natürlich nicht wenig zu schaffen gemacht hat.


Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Ein richtiges Urtheil hierüber iſt nur im concreten Fall mög-
lich, bleibt alſo dem Urtheil des Subjekts überlaſſen. Ein
Mißbrauch dieſes dem Subjekt geſchenkten Vertrauens wird
zwar nicht durch das Geſetz verhindert oder beſtraft, aber die
Stelle des todten Geſetzes vertritt hier als lebendiges Geſetz,
das ſich ganz dem concreten Fall anſchmiegt, der Cenſor, das
Volk und, wie wir unten ſehen werden, hinſichtlich der fami-
lienrechtlichen Gewalten, die Familie.

Daß die ſubjektive Freiheit nicht aus einer ſolchen Anſchau-
ung hervorgegangen ſein mag, gebe ich gern zu, iſt aber
völlig gleichgültig; genug in der Blüthezeit der Republik er-
ſcheint ſie thatſächlich in dieſer Weiſe moderirt und ſittlich ge-
rechtfertigt, und wir werden bei einem ihrer Hauptausflüſſe, der
hausherrlichen Gewalt, die beſte Gelegenheit haben, zu zeigen,
wie weit die wahre praktiſche Geſtalt des Verhältniſſes von der
abſtracten juriſtiſchen Formulirung abwich. Daher erſchien
denn, um ein Beiſpiel für eine frühere Behauptung zu geben,
die patria potestas einem Römer, der dieſelbe aus dem Leben
kannte, nicht als das nackte und in ſeiner Nacktheit unſittliche
Recht, die Kinder zu verkaufen, enterben, tödten u. ſ. w., ſon-
dern als eine durch die thatſächlichen Vorausſetzungen des Le-
bens begränzte und beſtimmte Erziehungsgewalt und
Oberhoheit des Vaters. Ja das rechtliche und ſittliche Element
des Inſtituts waren hier für die gewöhnliche Vorſtellung gewiß
ſo miteinander verwachſen, und im natürlichen Lauf der Dinge
kam auch ein Anlaß, ſie ſcharf zu trennen, ſo ſelten vor, daß bei
einzelnen Einrichtungen wenigſtens der Laie zweifelhaft ſein
konnte, ob das Recht oder die Sitte es ſo mit ſich bringe. Einen
eklatanten Beleg für dieſe Behauptung gibt das römiſche Famili-
engericht, ein Inſtitut, deſſen amphibienartige Natur unverkenn-
bar iſt und unſeren Rechtshiſtorikern bei dem von vornherein
verkehrten Verſuch, die ſich daran knüpfenden Fragen in juriſti-
ſcher
Weiſe d. h. als Rechts fragen zu behandeln und ſcharf
zu beantworten, natürlich nicht wenig zu ſchaffen gemacht hat.


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[150/0164] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. Ein richtiges Urtheil hierüber iſt nur im concreten Fall mög- lich, bleibt alſo dem Urtheil des Subjekts überlaſſen. Ein Mißbrauch dieſes dem Subjekt geſchenkten Vertrauens wird zwar nicht durch das Geſetz verhindert oder beſtraft, aber die Stelle des todten Geſetzes vertritt hier als lebendiges Geſetz, das ſich ganz dem concreten Fall anſchmiegt, der Cenſor, das Volk und, wie wir unten ſehen werden, hinſichtlich der fami- lienrechtlichen Gewalten, die Familie. Daß die ſubjektive Freiheit nicht aus einer ſolchen Anſchau- ung hervorgegangen ſein mag, gebe ich gern zu, iſt aber völlig gleichgültig; genug in der Blüthezeit der Republik er- ſcheint ſie thatſächlich in dieſer Weiſe moderirt und ſittlich ge- rechtfertigt, und wir werden bei einem ihrer Hauptausflüſſe, der hausherrlichen Gewalt, die beſte Gelegenheit haben, zu zeigen, wie weit die wahre praktiſche Geſtalt des Verhältniſſes von der abſtracten juriſtiſchen Formulirung abwich. Daher erſchien denn, um ein Beiſpiel für eine frühere Behauptung zu geben, die patria potestas einem Römer, der dieſelbe aus dem Leben kannte, nicht als das nackte und in ſeiner Nacktheit unſittliche Recht, die Kinder zu verkaufen, enterben, tödten u. ſ. w., ſon- dern als eine durch die thatſächlichen Vorausſetzungen des Le- bens begränzte und beſtimmte Erziehungsgewalt und Oberhoheit des Vaters. Ja das rechtliche und ſittliche Element des Inſtituts waren hier für die gewöhnliche Vorſtellung gewiß ſo miteinander verwachſen, und im natürlichen Lauf der Dinge kam auch ein Anlaß, ſie ſcharf zu trennen, ſo ſelten vor, daß bei einzelnen Einrichtungen wenigſtens der Laie zweifelhaft ſein konnte, ob das Recht oder die Sitte es ſo mit ſich bringe. Einen eklatanten Beleg für dieſe Behauptung gibt das römiſche Famili- engericht, ein Inſtitut, deſſen amphibienartige Natur unverkenn- bar iſt und unſeren Rechtshiſtorikern bei dem von vornherein verkehrten Verſuch, die ſich daran knüpfenden Fragen in juriſti- ſcher Weiſe d. h. als Rechts fragen zu behandeln und ſcharf zu beantworten, natürlich nicht wenig zu ſchaffen gemacht hat.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/164>, abgerufen am 23.11.2024.