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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sinn derselben. §. 32.
die Verfolgung und Verwirklichung des Rechtsgesichtspunktes
so leicht wirkliche Anstößigkeiten nach sich, nirgends kann das
"Ethos" so leicht in moralischen Schlamm und Schmutz gera-
then, als hier. 297) Je tiefer die Zartheit des Verhältnisses
empfunden, je edler und reiner es in der Wirklichkeit gehalten
wird, um so mehr wird eine solche Entweihung desselben das
Gefühl verletzen, kurz: je weniger das Gesetz es für
nöthig hält oder nöthig hat sich hineinzumischen,
desto besser
.

Im ältern römischen Recht beschränkt sich jenes Eingreifen
des Gesetzes auf ein Minimum. Das römische Haus ist
ein der Herrschaft der todten Rechtsregeln exi-
mirtes Gebiet der Liebe und freien Sittlichkeit
.
Das innere Leben der Familie soll nach römischer Ansicht sich
frei aus sich selbst entwickeln. Die dürre Prosa des Rechts soll
nicht in das römische Haus hineindringen; das Leben, das sich
hier entfaltet, die Verhältnisse, die hier bestehen, die Streitig-
keiten, die sich hier entspinnen -- für sie alle ist das Recht un-
anwendbar. Das Haus ist ja die Schöpfung des Hausherrn;
sein Geist, seine Einsicht, seine Autorität geben doch schließ-
lich den Ausschlag, wie und was es wird; der Einfluß des Ge-
setzes könnte dem gegenüber nur ein höchst unbedeutender sein.
So überläßt denn das Gesetz ihm auch rechtlich die Macht,
die er faktisch in der Regel haben wird.

Was heißt aber diese Macht? Nicht das, daß seine Laune
und Willkühr hier frei schalten möge -- so wenig wie man
das Wesen der absoluten Monarchie in Laune und Willkühr
wird setzen wollen, obgleich letztere rechtlich möglich ist -- son-

297) Man denke sich z. B. das Capitel über das debitum conjugale als
Gegenstand rechtlicher Regulirung (in der kasuistischen Literatur der Tal-
mudisten und Jesuiten ist darin unglaubliches geleistet) oder als Gegenstand
der Verhandlung vor Ehegerichten; man erinnere sich der Bestimmung eines
neuern Gesetzbuchs, daß die Mutter die Tochter bei erreichter Mannbarkeit
über den geschlechtlichen Beruf des Weibes aufzuklären habe u. s. w.

A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sinn derſelben. §. 32.
die Verfolgung und Verwirklichung des Rechtsgeſichtspunktes
ſo leicht wirkliche Anſtößigkeiten nach ſich, nirgends kann das
„Ethos“ ſo leicht in moraliſchen Schlamm und Schmutz gera-
then, als hier. 297) Je tiefer die Zartheit des Verhältniſſes
empfunden, je edler und reiner es in der Wirklichkeit gehalten
wird, um ſo mehr wird eine ſolche Entweihung deſſelben das
Gefühl verletzen, kurz: je weniger das Geſetz es für
nöthig hält oder nöthig hat ſich hineinzumiſchen,
deſto beſſer
.

Im ältern römiſchen Recht beſchränkt ſich jenes Eingreifen
des Geſetzes auf ein Minimum. Das römiſche Haus iſt
ein der Herrſchaft der todten Rechtsregeln exi-
mirtes Gebiet der Liebe und freien Sittlichkeit
.
Das innere Leben der Familie ſoll nach römiſcher Anſicht ſich
frei aus ſich ſelbſt entwickeln. Die dürre Proſa des Rechts ſoll
nicht in das römiſche Haus hineindringen; das Leben, das ſich
hier entfaltet, die Verhältniſſe, die hier beſtehen, die Streitig-
keiten, die ſich hier entſpinnen — für ſie alle iſt das Recht un-
anwendbar. Das Haus iſt ja die Schöpfung des Hausherrn;
ſein Geiſt, ſeine Einſicht, ſeine Autorität geben doch ſchließ-
lich den Ausſchlag, wie und was es wird; der Einfluß des Ge-
ſetzes könnte dem gegenüber nur ein höchſt unbedeutender ſein.
So überläßt denn das Geſetz ihm auch rechtlich die Macht,
die er faktiſch in der Regel haben wird.

Was heißt aber dieſe Macht? Nicht das, daß ſeine Laune
und Willkühr hier frei ſchalten möge — ſo wenig wie man
das Weſen der abſoluten Monarchie in Laune und Willkühr
wird ſetzen wollen, obgleich letztere rechtlich möglich iſt — ſon-

297) Man denke ſich z. B. das Capitel über das debitum conjugale als
Gegenſtand rechtlicher Regulirung (in der kaſuiſtiſchen Literatur der Tal-
mudiſten und Jeſuiten iſt darin unglaubliches geleiſtet) oder als Gegenſtand
der Verhandlung vor Ehegerichten; man erinnere ſich der Beſtimmung eines
neuern Geſetzbuchs, daß die Mutter die Tochter bei erreichter Mannbarkeit
über den geſchlechtlichen Beruf des Weibes aufzuklären habe u. ſ. w.
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[201/0215] A. Stellung des Indiv. Hausherrl. Gewalt. Sinn derſelben. §. 32. die Verfolgung und Verwirklichung des Rechtsgeſichtspunktes ſo leicht wirkliche Anſtößigkeiten nach ſich, nirgends kann das „Ethos“ ſo leicht in moraliſchen Schlamm und Schmutz gera- then, als hier. 297) Je tiefer die Zartheit des Verhältniſſes empfunden, je edler und reiner es in der Wirklichkeit gehalten wird, um ſo mehr wird eine ſolche Entweihung deſſelben das Gefühl verletzen, kurz: je weniger das Geſetz es für nöthig hält oder nöthig hat ſich hineinzumiſchen, deſto beſſer. Im ältern römiſchen Recht beſchränkt ſich jenes Eingreifen des Geſetzes auf ein Minimum. Das römiſche Haus iſt ein der Herrſchaft der todten Rechtsregeln exi- mirtes Gebiet der Liebe und freien Sittlichkeit. Das innere Leben der Familie ſoll nach römiſcher Anſicht ſich frei aus ſich ſelbſt entwickeln. Die dürre Proſa des Rechts ſoll nicht in das römiſche Haus hineindringen; das Leben, das ſich hier entfaltet, die Verhältniſſe, die hier beſtehen, die Streitig- keiten, die ſich hier entſpinnen — für ſie alle iſt das Recht un- anwendbar. Das Haus iſt ja die Schöpfung des Hausherrn; ſein Geiſt, ſeine Einſicht, ſeine Autorität geben doch ſchließ- lich den Ausſchlag, wie und was es wird; der Einfluß des Ge- ſetzes könnte dem gegenüber nur ein höchſt unbedeutender ſein. So überläßt denn das Geſetz ihm auch rechtlich die Macht, die er faktiſch in der Regel haben wird. Was heißt aber dieſe Macht? Nicht das, daß ſeine Laune und Willkühr hier frei ſchalten möge — ſo wenig wie man das Weſen der abſoluten Monarchie in Laune und Willkühr wird ſetzen wollen, obgleich letztere rechtlich möglich iſt — ſon- 297) Man denke ſich z. B. das Capitel über das debitum conjugale als Gegenſtand rechtlicher Regulirung (in der kaſuiſtiſchen Literatur der Tal- mudiſten und Jeſuiten iſt darin unglaubliches geleiſtet) oder als Gegenſtand der Verhandlung vor Ehegerichten; man erinnere ſich der Beſtimmung eines neuern Geſetzbuchs, daß die Mutter die Tochter bei erreichter Mannbarkeit über den geſchlechtlichen Beruf des Weibes aufzuklären habe u. ſ. w.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/215>, abgerufen am 24.11.2024.