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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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B. Stellung der Magistratur. -- Staatsrechtl. Praxis. §. 35.
erregte in Rom die größte Mißbilligung (Anm. 431), allein selbst
bei der schärfsten Kritik ward die Anklage doch nicht auf die
Rechtswidrigkeit der Handlung gestellt, wenigstens von
Seiten solcher Schriftsteller, die die Sache kannten und einen
ungenauen Ausdruck vermieden. 442) Daß andere Schriftsteller
das Herkommen und die Praxis leicht mit dem Recht verwech-
seln konnten, liegt auf der Hand, und es wäre daher ein Wun-
der, wenn sich nicht unter den Berichterstattern manche bloß
hierdurch veranlaßte Differenzen über staatsrechtliche Fragen
finden sollten. Wo namentlich griechische Berichterstatter, wie
Polybius, Dionysius, Plutarch, nach der Anschauung des
gewöhnlichen Lebens eine rechtliche Verpflichtung annah-
men, 443) konnte der mit der altrömischen nationalen Anschau-
ungsweise vertrautere einheimische Schriftsteller eine solche nicht
erblicken; was dem Einen also als Rechtsverletzung erschien,
darin fand der Andere eine wenn auch anstößige, tadelnswerthe,
doch aber formell legale Handlung. Ich brauche nicht zu be-
merken, wie gerade diese Differenz zwischen den Berichterstat-
tern die Richtigkeit meiner ganzen Auffassung bestätigt. An
dieser Differenz, oder allgemeiner an dem Eindruck der Unbe-
stimmtheit, Zweifelhaftigkeit u. s. w., der uns auf dem Gebiete
des römischen Staatsrechts keinen Augenblick verläßt, zeigt es
sich deutlich, daß hier die Sitte, deren Wesen ja gerade die Un-
bestimmtheit ist, ihr Spiel treibt. 444)

442) z. B. Cic. in Vat. c. 14. in omni memoria omnino inauditum.
Liv. XLV, 21. novo maloque exemplo.
443) z. B. hinsichtlich der Frage, ob der Consul ohne einen Senats-
beschluß Gold aus dem Aerar nehmen dürfe. Polyb. VI, c. 12. §. 5, c. 15.
Zonar. VII,
13. Da unsere neueren Schriftsteller den im Text angegebenen
Gesichtspunkt nicht beachtet haben, so setzte sich denn auch unter ihnen, wie
bei dieser Frage (Rubino Untersuchungen, S. 178. Becker Handbuch der
röm. Alterth. Bd. 2. Abth. 2. S. 110), so bei vielen andern die Differenz
fort, und alle Bemühungen, die scheinbaren Widersprüche der Quellen zu ver-
einigen, werden hier so lange erfolglos bleiben, bis man sich entschließt, den
obigen Gesichtspunkt zu Grunde zu legen.
444) Es wäre ein verdienstliches Unternehmen, anstatt wie bisher bei der
19*

B. Stellung der Magiſtratur. — Staatsrechtl. Praxis. §. 35.
erregte in Rom die größte Mißbilligung (Anm. 431), allein ſelbſt
bei der ſchärfſten Kritik ward die Anklage doch nicht auf die
Rechtswidrigkeit der Handlung geſtellt, wenigſtens von
Seiten ſolcher Schriftſteller, die die Sache kannten und einen
ungenauen Ausdruck vermieden. 442) Daß andere Schriftſteller
das Herkommen und die Praxis leicht mit dem Recht verwech-
ſeln konnten, liegt auf der Hand, und es wäre daher ein Wun-
der, wenn ſich nicht unter den Berichterſtattern manche bloß
hierdurch veranlaßte Differenzen über ſtaatsrechtliche Fragen
finden ſollten. Wo namentlich griechiſche Berichterſtatter, wie
Polybius, Dionyſius, Plutarch, nach der Anſchauung des
gewöhnlichen Lebens eine rechtliche Verpflichtung annah-
men, 443) konnte der mit der altrömiſchen nationalen Anſchau-
ungsweiſe vertrautere einheimiſche Schriftſteller eine ſolche nicht
erblicken; was dem Einen alſo als Rechtsverletzung erſchien,
darin fand der Andere eine wenn auch anſtößige, tadelnswerthe,
doch aber formell legale Handlung. Ich brauche nicht zu be-
merken, wie gerade dieſe Differenz zwiſchen den Berichterſtat-
tern die Richtigkeit meiner ganzen Auffaſſung beſtätigt. An
dieſer Differenz, oder allgemeiner an dem Eindruck der Unbe-
ſtimmtheit, Zweifelhaftigkeit u. ſ. w., der uns auf dem Gebiete
des römiſchen Staatsrechts keinen Augenblick verläßt, zeigt es
ſich deutlich, daß hier die Sitte, deren Weſen ja gerade die Un-
beſtimmtheit iſt, ihr Spiel treibt. 444)

442) z. B. Cic. in Vat. c. 14. in omni memoria omnino inauditum.
Liv. XLV, 21. novo maloque exemplo.
443) z. B. hinſichtlich der Frage, ob der Conſul ohne einen Senats-
beſchluß Gold aus dem Aerar nehmen dürfe. Polyb. VI, c. 12. §. 5, c. 15.
Zonar. VII,
13. Da unſere neueren Schriftſteller den im Text angegebenen
Geſichtspunkt nicht beachtet haben, ſo ſetzte ſich denn auch unter ihnen, wie
bei dieſer Frage (Rubino Unterſuchungen, S. 178. Becker Handbuch der
röm. Alterth. Bd. 2. Abth. 2. S. 110), ſo bei vielen andern die Differenz
fort, und alle Bemühungen, die ſcheinbaren Widerſprüche der Quellen zu ver-
einigen, werden hier ſo lange erfolglos bleiben, bis man ſich entſchließt, den
obigen Geſichtspunkt zu Grunde zu legen.
444) Es wäre ein verdienſtliches Unternehmen, anſtatt wie bisher bei der
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[291/0305] B. Stellung der Magiſtratur. — Staatsrechtl. Praxis. §. 35. erregte in Rom die größte Mißbilligung (Anm. 431), allein ſelbſt bei der ſchärfſten Kritik ward die Anklage doch nicht auf die Rechtswidrigkeit der Handlung geſtellt, wenigſtens von Seiten ſolcher Schriftſteller, die die Sache kannten und einen ungenauen Ausdruck vermieden. 442) Daß andere Schriftſteller das Herkommen und die Praxis leicht mit dem Recht verwech- ſeln konnten, liegt auf der Hand, und es wäre daher ein Wun- der, wenn ſich nicht unter den Berichterſtattern manche bloß hierdurch veranlaßte Differenzen über ſtaatsrechtliche Fragen finden ſollten. Wo namentlich griechiſche Berichterſtatter, wie Polybius, Dionyſius, Plutarch, nach der Anſchauung des gewöhnlichen Lebens eine rechtliche Verpflichtung annah- men, 443) konnte der mit der altrömiſchen nationalen Anſchau- ungsweiſe vertrautere einheimiſche Schriftſteller eine ſolche nicht erblicken; was dem Einen alſo als Rechtsverletzung erſchien, darin fand der Andere eine wenn auch anſtößige, tadelnswerthe, doch aber formell legale Handlung. Ich brauche nicht zu be- merken, wie gerade dieſe Differenz zwiſchen den Berichterſtat- tern die Richtigkeit meiner ganzen Auffaſſung beſtätigt. An dieſer Differenz, oder allgemeiner an dem Eindruck der Unbe- ſtimmtheit, Zweifelhaftigkeit u. ſ. w., der uns auf dem Gebiete des römiſchen Staatsrechts keinen Augenblick verläßt, zeigt es ſich deutlich, daß hier die Sitte, deren Weſen ja gerade die Un- beſtimmtheit iſt, ihr Spiel treibt. 444) 442) z. B. Cic. in Vat. c. 14. in omni memoria omnino inauditum. Liv. XLV, 21. novo maloque exemplo. 443) z. B. hinſichtlich der Frage, ob der Conſul ohne einen Senats- beſchluß Gold aus dem Aerar nehmen dürfe. Polyb. VI, c. 12. §. 5, c. 15. Zonar. VII, 13. Da unſere neueren Schriftſteller den im Text angegebenen Geſichtspunkt nicht beachtet haben, ſo ſetzte ſich denn auch unter ihnen, wie bei dieſer Frage (Rubino Unterſuchungen, S. 178. Becker Handbuch der röm. Alterth. Bd. 2. Abth. 2. S. 110), ſo bei vielen andern die Differenz fort, und alle Bemühungen, die ſcheinbaren Widerſprüche der Quellen zu ver- einigen, werden hier ſo lange erfolglos bleiben, bis man ſich entſchließt, den obigen Geſichtspunkt zu Grunde zu legen. 444) Es wäre ein verdienſtliches Unternehmen, anſtatt wie bisher bei der 19*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/305>, abgerufen am 23.11.2024.