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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
Wir haben aber nicht nöthig, in die entlegensten Zeiten der Ge-
schichte des Rechts zurückzusteigen, um diese Vorstufe kennen zu
lernen; das Schauspiel der gewohnheitsrechtlichen Bildung
wiederholt sich, wenn auch in vereinzelten Anwendungen, täg-
lich unter unsern Augen, und an ihm können wir von dem eben
Gesagten die Probe machen. Wie viele verschiedenartige Motive
zur ursprünglichen Bildung einer Gewohnheit mitwirken können,
das Gefühl der Zweckmäßigkeit, der Verpflichtung, die vis iner-
tiae
u. s. w., will ich gar nicht in Anschlag bringen. Die con-
stante Handlungsweise -- das äußere Requisit der gewohnheits-
rechtlichen Doctrin -- sei einmal unzweifelhaft vorhanden, ebenso
das innere Requisit, das in den handelnden Personen herr-
schende Gefühl der Nothwendigkeit. Nach der Theorie ist jetzt
das Gewohnheitsrecht fertig. Aber wie, gibt es denn nicht
eine doppelte Art der Nothwendigkeit, eine rechtliche und sitt-
liche? Wenn das unbestimmte Gefühl: "so müsse es geschehen"
sich zu dem Bewußtsein rechtlicher Nothwendigkeit erho-
ben hat, dann freilich ist die Sache einfach; der Prozeß der
gewohnheitsrechtlichen Bildung hat hier seinen äußersten und
höchsten Punkt erreicht. Wie aber, wenn jenes Gefühl bloß das
der sittlichen Verpflichtung war, oder wenn es die nähere
Bestimmtheit darüber, welcher von beiden Arten es angehöre,
noch gar nicht gewonnen? Und letzteres ist ja der gewöhnliche
Fall, wenigstens werden die meisten Gewohnheitsrechte, bevor
sie jenen äußersten Punkt erreicht haben, längere Zeit hindurch
sich in diesem Stadium befunden haben. Wie sollen sie auf
dieser Stufe charakterisirt werden? Soll man sie aus dem Ge-
biete des Rechts ganz ausweisen, weil sie auf den Unterschied
zwischen Recht und Moral, der für sie ein Anachronismus ist,
nicht reagiren? Ihnen aufgeben, innerlich nachzureifen und dann
sich wieder zu stellen?

Wer selbst aus eigner Erfahrung Versuche des Beweises
eines speziellen Gewohnheitsrechts kennt, wird mir einräumen,
daß hier überall das zu Tage kommt, was ich als das Wesen

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
Wir haben aber nicht nöthig, in die entlegenſten Zeiten der Ge-
ſchichte des Rechts zurückzuſteigen, um dieſe Vorſtufe kennen zu
lernen; das Schauſpiel der gewohnheitsrechtlichen Bildung
wiederholt ſich, wenn auch in vereinzelten Anwendungen, täg-
lich unter unſern Augen, und an ihm können wir von dem eben
Geſagten die Probe machen. Wie viele verſchiedenartige Motive
zur urſprünglichen Bildung einer Gewohnheit mitwirken können,
das Gefühl der Zweckmäßigkeit, der Verpflichtung, die vis iner-
tiae
u. ſ. w., will ich gar nicht in Anſchlag bringen. Die con-
ſtante Handlungsweiſe — das äußere Requiſit der gewohnheits-
rechtlichen Doctrin — ſei einmal unzweifelhaft vorhanden, ebenſo
das innere Requiſit, das in den handelnden Perſonen herr-
ſchende Gefühl der Nothwendigkeit. Nach der Theorie iſt jetzt
das Gewohnheitsrecht fertig. Aber wie, gibt es denn nicht
eine doppelte Art der Nothwendigkeit, eine rechtliche und ſitt-
liche? Wenn das unbeſtimmte Gefühl: „ſo müſſe es geſchehen“
ſich zu dem Bewußtſein rechtlicher Nothwendigkeit erho-
ben hat, dann freilich iſt die Sache einfach; der Prozeß der
gewohnheitsrechtlichen Bildung hat hier ſeinen äußerſten und
höchſten Punkt erreicht. Wie aber, wenn jenes Gefühl bloß das
der ſittlichen Verpflichtung war, oder wenn es die nähere
Beſtimmtheit darüber, welcher von beiden Arten es angehöre,
noch gar nicht gewonnen? Und letzteres iſt ja der gewöhnliche
Fall, wenigſtens werden die meiſten Gewohnheitsrechte, bevor
ſie jenen äußerſten Punkt erreicht haben, längere Zeit hindurch
ſich in dieſem Stadium befunden haben. Wie ſollen ſie auf
dieſer Stufe charakteriſirt werden? Soll man ſie aus dem Ge-
biete des Rechts ganz ausweiſen, weil ſie auf den Unterſchied
zwiſchen Recht und Moral, der für ſie ein Anachronismus iſt,
nicht reagiren? Ihnen aufgeben, innerlich nachzureifen und dann
ſich wieder zu ſtellen?

Wer ſelbſt aus eigner Erfahrung Verſuche des Beweiſes
eines ſpeziellen Gewohnheitsrechts kennt, wird mir einräumen,
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[29/0043] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25. Wir haben aber nicht nöthig, in die entlegenſten Zeiten der Ge- ſchichte des Rechts zurückzuſteigen, um dieſe Vorſtufe kennen zu lernen; das Schauſpiel der gewohnheitsrechtlichen Bildung wiederholt ſich, wenn auch in vereinzelten Anwendungen, täg- lich unter unſern Augen, und an ihm können wir von dem eben Geſagten die Probe machen. Wie viele verſchiedenartige Motive zur urſprünglichen Bildung einer Gewohnheit mitwirken können, das Gefühl der Zweckmäßigkeit, der Verpflichtung, die vis iner- tiae u. ſ. w., will ich gar nicht in Anſchlag bringen. Die con- ſtante Handlungsweiſe — das äußere Requiſit der gewohnheits- rechtlichen Doctrin — ſei einmal unzweifelhaft vorhanden, ebenſo das innere Requiſit, das in den handelnden Perſonen herr- ſchende Gefühl der Nothwendigkeit. Nach der Theorie iſt jetzt das Gewohnheitsrecht fertig. Aber wie, gibt es denn nicht eine doppelte Art der Nothwendigkeit, eine rechtliche und ſitt- liche? Wenn das unbeſtimmte Gefühl: „ſo müſſe es geſchehen“ ſich zu dem Bewußtſein rechtlicher Nothwendigkeit erho- ben hat, dann freilich iſt die Sache einfach; der Prozeß der gewohnheitsrechtlichen Bildung hat hier ſeinen äußerſten und höchſten Punkt erreicht. Wie aber, wenn jenes Gefühl bloß das der ſittlichen Verpflichtung war, oder wenn es die nähere Beſtimmtheit darüber, welcher von beiden Arten es angehöre, noch gar nicht gewonnen? Und letzteres iſt ja der gewöhnliche Fall, wenigſtens werden die meiſten Gewohnheitsrechte, bevor ſie jenen äußerſten Punkt erreicht haben, längere Zeit hindurch ſich in dieſem Stadium befunden haben. Wie ſollen ſie auf dieſer Stufe charakteriſirt werden? Soll man ſie aus dem Ge- biete des Rechts ganz ausweiſen, weil ſie auf den Unterſchied zwiſchen Recht und Moral, der für ſie ein Anachronismus iſt, nicht reagiren? Ihnen aufgeben, innerlich nachzureifen und dann ſich wieder zu ſtellen? Wer ſelbſt aus eigner Erfahrung Verſuche des Beweiſes eines ſpeziellen Gewohnheitsrechts kennt, wird mir einräumen, daß hier überall das zu Tage kommt, was ich als das Weſen

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/43>, abgerufen am 21.11.2024.