Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe. der Sitte oder des ungeschriebenen Rechts bezeichnet habe: dieUnbestimmtheit. Er wird mir einräumen, daß je nach der Ver- schiedenheit der Personen das Gefühl der Nothwendigkeit bald schwerer, bald leichter empfunden wird d. h. bald mehr als Rechtsgefühl, bald mehr als Glaube einer bloß moralischen Verpflichtung. Und ebenso lehrt die Erfahrung, daß je nach Verschiedenheit des Richters derselbe Beweis des Gewohnheits- rechts bald für erbracht, bald für mißlungen erklärt wird. Die Theorie des Gewohnheitsrechts möge sich noch so sehr ihrer vermeintlichen Bestimmtheit rühmen, sie möge ihr "Rechtsge- fühl" als Quelle des Gewohnheitsrechts in abstracto noch so sehr zu dem Gefühl einer bloß moralischen Verpflichtung in Gegen- satz stellen: im Leben schwimmen beide nur zu oft zu einem Fluidum zusammen, und Unbestimmtheit ist der reguläre Cha- rakterzug der gewohnheitsrechtlichen Bildung. Je weniger nun dem Bisherigen nach das Recht in seinem 17) Liegt dies nicht auch in dem römischen Ausdruck Iustitia? Die
Ständigkeit, Selbständigkeit des Rechts ist ja das Ziel der Gerechtigkeit. Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. der Sitte oder des ungeſchriebenen Rechts bezeichnet habe: dieUnbeſtimmtheit. Er wird mir einräumen, daß je nach der Ver- ſchiedenheit der Perſonen das Gefühl der Nothwendigkeit bald ſchwerer, bald leichter empfunden wird d. h. bald mehr als Rechtsgefühl, bald mehr als Glaube einer bloß moraliſchen Verpflichtung. Und ebenſo lehrt die Erfahrung, daß je nach Verſchiedenheit des Richters derſelbe Beweis des Gewohnheits- rechts bald für erbracht, bald für mißlungen erklärt wird. Die Theorie des Gewohnheitsrechts möge ſich noch ſo ſehr ihrer vermeintlichen Beſtimmtheit rühmen, ſie möge ihr „Rechtsge- fühl“ als Quelle des Gewohnheitsrechts in abſtracto noch ſo ſehr zu dem Gefühl einer bloß moraliſchen Verpflichtung in Gegen- ſatz ſtellen: im Leben ſchwimmen beide nur zu oft zu einem Fluidum zuſammen, und Unbeſtimmtheit iſt der reguläre Cha- rakterzug der gewohnheitsrechtlichen Bildung. Je weniger nun dem Bisherigen nach das Recht in ſeinem 17) Liegt dies nicht auch in dem römiſchen Ausdruck Iustitia? Die
Ständigkeit, Selbſtändigkeit des Rechts iſt ja das Ziel der Gerechtigkeit. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0044" n="30"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe.</fw><lb/> der Sitte oder des ungeſchriebenen Rechts bezeichnet habe: die<lb/> Unbeſtimmtheit. Er wird mir einräumen, daß je nach der Ver-<lb/> ſchiedenheit der Perſonen das Gefühl der Nothwendigkeit bald<lb/> ſchwerer, bald leichter empfunden wird d. h. bald mehr als<lb/> Rechtsgefühl, bald mehr als Glaube einer bloß moraliſchen<lb/> Verpflichtung. Und ebenſo lehrt die Erfahrung, daß je nach<lb/> Verſchiedenheit des Richters derſelbe Beweis des Gewohnheits-<lb/> rechts bald für erbracht, bald für mißlungen erklärt wird. Die<lb/> Theorie des Gewohnheitsrechts möge ſich noch ſo ſehr ihrer<lb/> vermeintlichen Beſtimmtheit rühmen, ſie möge ihr „Rechtsge-<lb/> fühl“ als Quelle des Gewohnheitsrechts in abſtracto noch ſo ſehr<lb/> zu dem Gefühl einer bloß moraliſchen Verpflichtung in Gegen-<lb/> ſatz ſtellen: im Leben ſchwimmen beide nur zu oft zu <hi rendition="#g">einem</hi><lb/> Fluidum zuſammen, und Unbeſtimmtheit iſt der reguläre Cha-<lb/> rakterzug der gewohnheitsrechtlichen Bildung.</p><lb/> <p>Je weniger nun dem Bisherigen nach das Recht in ſeinem<lb/> primitiven Zuſtand bereits innere Feſtigkeit und Beſtimmtheit<lb/> gewonnen hat, je mehr die Möglichkeit eines Schwankens in<lb/> ſeiner Natur begründet iſt, um ſo höhern Werth hat auf dieſer<lb/> Stufe die Tugend der Gerechtigkeit. In ihr erhebt ſich das<lb/> Recht zu dem Beſtreben, ſich frei zu machen von dem Wechſel der<lb/> Stimmungen, dem Einfluſſe aller perſönlichen Bezüge u. ſ.<lb/> w., und eine Gleichheit der rechtlichen Behandlung eintreten<lb/> zu laſſen; es iſt die erſte Regung des Selbſtändigkeitstriebes<lb/> des Rechts.<note place="foot" n="17)">Liegt dies nicht auch in dem römiſchen Ausdruck <hi rendition="#aq">Iustitia</hi>? Die<lb/> Ständigkeit, Selbſtändigkeit des Rechts iſt ja das Ziel der Gerechtigkeit.</note> Die Gerechtigkeit hat hier noch mit der ganzen<lb/> Gefühlsſubſtanz zu ringen, von der ſie umgeben iſt, und nur<lb/> ein ungewöhnlicher Grad von Einſicht und Charakterfeſtigkeit<lb/> iſt dieſer Aufgabe gewachſen. Daher auch die außerordentliche<lb/> Anerkennung, die ſie findet, und die für die ſpätern Entwick-<lb/> lungsſtufen des Rechts keinen Sinn haben würde. In unſerm<lb/> heutigen Recht iſt das Verdienſt der Gerechtigkeit ein unendlich<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [30/0044]
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
der Sitte oder des ungeſchriebenen Rechts bezeichnet habe: die
Unbeſtimmtheit. Er wird mir einräumen, daß je nach der Ver-
ſchiedenheit der Perſonen das Gefühl der Nothwendigkeit bald
ſchwerer, bald leichter empfunden wird d. h. bald mehr als
Rechtsgefühl, bald mehr als Glaube einer bloß moraliſchen
Verpflichtung. Und ebenſo lehrt die Erfahrung, daß je nach
Verſchiedenheit des Richters derſelbe Beweis des Gewohnheits-
rechts bald für erbracht, bald für mißlungen erklärt wird. Die
Theorie des Gewohnheitsrechts möge ſich noch ſo ſehr ihrer
vermeintlichen Beſtimmtheit rühmen, ſie möge ihr „Rechtsge-
fühl“ als Quelle des Gewohnheitsrechts in abſtracto noch ſo ſehr
zu dem Gefühl einer bloß moraliſchen Verpflichtung in Gegen-
ſatz ſtellen: im Leben ſchwimmen beide nur zu oft zu einem
Fluidum zuſammen, und Unbeſtimmtheit iſt der reguläre Cha-
rakterzug der gewohnheitsrechtlichen Bildung.
Je weniger nun dem Bisherigen nach das Recht in ſeinem
primitiven Zuſtand bereits innere Feſtigkeit und Beſtimmtheit
gewonnen hat, je mehr die Möglichkeit eines Schwankens in
ſeiner Natur begründet iſt, um ſo höhern Werth hat auf dieſer
Stufe die Tugend der Gerechtigkeit. In ihr erhebt ſich das
Recht zu dem Beſtreben, ſich frei zu machen von dem Wechſel der
Stimmungen, dem Einfluſſe aller perſönlichen Bezüge u. ſ.
w., und eine Gleichheit der rechtlichen Behandlung eintreten
zu laſſen; es iſt die erſte Regung des Selbſtändigkeitstriebes
des Rechts. 17) Die Gerechtigkeit hat hier noch mit der ganzen
Gefühlsſubſtanz zu ringen, von der ſie umgeben iſt, und nur
ein ungewöhnlicher Grad von Einſicht und Charakterfeſtigkeit
iſt dieſer Aufgabe gewachſen. Daher auch die außerordentliche
Anerkennung, die ſie findet, und die für die ſpätern Entwick-
lungsſtufen des Rechts keinen Sinn haben würde. In unſerm
heutigen Recht iſt das Verdienſt der Gerechtigkeit ein unendlich
17) Liegt dies nicht auch in dem römiſchen Ausdruck Iustitia? Die
Ständigkeit, Selbſtändigkeit des Rechts iſt ja das Ziel der Gerechtigkeit.
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