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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
Klagformeln führte,23) so bei den Rechtsquellen, wenn er sich
nicht hier allein verläugnen sollte, zur Festhaltung des Systems
des geschriebenen Rechts gegenüber dem des ungeschriebenen.24)

Unsere bisherige Ausführung hatte das Privatrecht und den
Civilprozeß zum Gegenstande. In ungleich geringerem Grade
als bei ihnen zeigte sich die Tendenz, von der hier die Rede ist,
auf dem Gebiete des Staatsrechts. Während die wesentliche
Summe der für jene beiden Disciplinen geltenden Normen in
den Gesetzen, den Klagformeln und der Interpretatio fixirt war,
bestand im Staatsrecht zwischen der Wirklichkeit desselben und
seiner gesetzlichen Formulirung eine beträchtliche Differenz. Das
römische Staatsrecht war noch zum großen Theil in der Sphäre
des Gefühls befangen und ist darum auch mit den Römern un-
tergegangen. Man darf annehmen, daß dem römischen Magi-
strat und Richter die Normen, nach denen er Recht zu sprechen
hatte, wenn auch in objektiv unvollkommner, aber doch in
einer für ihn genügenden Weise vorgezeichnet waren. Ganz
anders war die Lage des römischen Magistrats in staatsrechtli-
cher Beziehung. Denn wie er sein Amt zu verwalten hatte, wie
weit sich seine Macht erstreckte u. s. w., das lehrten ihn die Gesetze
nur zum allergeringsten Theil, das mußte ihm sein Takt sagen,
oder mußte er der öffentlichen Meinung ablauschen. Wir Neuern

23) Dem Willen des Volks war hier in der Form eine bestimmte, feste
Gränze gesetzt, wie Pomponius sich in der L. 2 §. 6 de orig. jur. ausdrückt:
quas actiones ne populus, prout vellet, institueret, certas
solennesque esse voluerunt.
Ausschließung des bloß materiellen formlo-
sen Volkswillens ist aber in höchster Potenz ausgedrückt: Ausschließung des
Gewohnheitsrechts.
24) Die Aussprüche der spätern Juristen über das Gewohnheitsrecht sind
für die ältere Zeit nicht zu benutzen. Der Grund, mit dem z. B. Julian die
Kraft des Gewohnheitsrechts rechtfertigen will: nam quid interest suffragio
suo populus voluntatem suam declaret an rebus ipsis et factis (L. 32 de
legib.)
charakterisirt ihn und seine Zeit. Zur Blüthezeit des Formalismus
würde kein Jurist so gefragt haben. Den Geist jener spätern Zeit werden wir
im dritten System kennen lernen.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Klagformeln führte,23) ſo bei den Rechtsquellen, wenn er ſich
nicht hier allein verläugnen ſollte, zur Feſthaltung des Syſtems
des geſchriebenen Rechts gegenüber dem des ungeſchriebenen.24)

Unſere bisherige Ausführung hatte das Privatrecht und den
Civilprozeß zum Gegenſtande. In ungleich geringerem Grade
als bei ihnen zeigte ſich die Tendenz, von der hier die Rede iſt,
auf dem Gebiete des Staatsrechts. Während die weſentliche
Summe der für jene beiden Disciplinen geltenden Normen in
den Geſetzen, den Klagformeln und der Interpretatio fixirt war,
beſtand im Staatsrecht zwiſchen der Wirklichkeit deſſelben und
ſeiner geſetzlichen Formulirung eine beträchtliche Differenz. Das
römiſche Staatsrecht war noch zum großen Theil in der Sphäre
des Gefühls befangen und iſt darum auch mit den Römern un-
tergegangen. Man darf annehmen, daß dem römiſchen Magi-
ſtrat und Richter die Normen, nach denen er Recht zu ſprechen
hatte, wenn auch in objektiv unvollkommner, aber doch in
einer für ihn genügenden Weiſe vorgezeichnet waren. Ganz
anders war die Lage des römiſchen Magiſtrats in ſtaatsrechtli-
cher Beziehung. Denn wie er ſein Amt zu verwalten hatte, wie
weit ſich ſeine Macht erſtreckte u. ſ. w., das lehrten ihn die Geſetze
nur zum allergeringſten Theil, das mußte ihm ſein Takt ſagen,
oder mußte er der öffentlichen Meinung ablauſchen. Wir Neuern

23) Dem Willen des Volks war hier in der Form eine beſtimmte, feſte
Gränze geſetzt, wie Pomponius ſich in der L. 2 §. 6 de orig. jur. ausdrückt:
quas actiones ne populus, prout vellet, institueret, certas
solennesque esse voluerunt.
Ausſchließung des bloß materiellen formlo-
ſen Volkswillens iſt aber in höchſter Potenz ausgedrückt: Ausſchließung des
Gewohnheitsrechts.
24) Die Ausſprüche der ſpätern Juriſten über das Gewohnheitsrecht ſind
für die ältere Zeit nicht zu benutzen. Der Grund, mit dem z. B. Julian die
Kraft des Gewohnheitsrechts rechtfertigen will: nam quid interest suffragio
suo populus voluntatem suam declaret an rebus ipsis et factis (L. 32 de
legib.)
charakteriſirt ihn und ſeine Zeit. Zur Blüthezeit des Formalismus
würde kein Juriſt ſo gefragt haben. Den Geiſt jener ſpätern Zeit werden wir
im dritten Syſtem kennen lernen.
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[40/0054] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. Klagformeln führte, 23) ſo bei den Rechtsquellen, wenn er ſich nicht hier allein verläugnen ſollte, zur Feſthaltung des Syſtems des geſchriebenen Rechts gegenüber dem des ungeſchriebenen. 24) Unſere bisherige Ausführung hatte das Privatrecht und den Civilprozeß zum Gegenſtande. In ungleich geringerem Grade als bei ihnen zeigte ſich die Tendenz, von der hier die Rede iſt, auf dem Gebiete des Staatsrechts. Während die weſentliche Summe der für jene beiden Disciplinen geltenden Normen in den Geſetzen, den Klagformeln und der Interpretatio fixirt war, beſtand im Staatsrecht zwiſchen der Wirklichkeit deſſelben und ſeiner geſetzlichen Formulirung eine beträchtliche Differenz. Das römiſche Staatsrecht war noch zum großen Theil in der Sphäre des Gefühls befangen und iſt darum auch mit den Römern un- tergegangen. Man darf annehmen, daß dem römiſchen Magi- ſtrat und Richter die Normen, nach denen er Recht zu ſprechen hatte, wenn auch in objektiv unvollkommner, aber doch in einer für ihn genügenden Weiſe vorgezeichnet waren. Ganz anders war die Lage des römiſchen Magiſtrats in ſtaatsrechtli- cher Beziehung. Denn wie er ſein Amt zu verwalten hatte, wie weit ſich ſeine Macht erſtreckte u. ſ. w., das lehrten ihn die Geſetze nur zum allergeringſten Theil, das mußte ihm ſein Takt ſagen, oder mußte er der öffentlichen Meinung ablauſchen. Wir Neuern 23) Dem Willen des Volks war hier in der Form eine beſtimmte, feſte Gränze geſetzt, wie Pomponius ſich in der L. 2 §. 6 de orig. jur. ausdrückt: quas actiones ne populus, prout vellet, institueret, certas solennesque esse voluerunt. Ausſchließung des bloß materiellen formlo- ſen Volkswillens iſt aber in höchſter Potenz ausgedrückt: Ausſchließung des Gewohnheitsrechts. 24) Die Ausſprüche der ſpätern Juriſten über das Gewohnheitsrecht ſind für die ältere Zeit nicht zu benutzen. Der Grund, mit dem z. B. Julian die Kraft des Gewohnheitsrechts rechtfertigen will: nam quid interest suffragio suo populus voluntatem suam declaret an rebus ipsis et factis (L. 32 de legib.) charakteriſirt ihn und ſeine Zeit. Zur Blüthezeit des Formalismus würde kein Juriſt ſo gefragt haben. Den Geiſt jener ſpätern Zeit werden wir im dritten Syſtem kennen lernen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/54>, abgerufen am 24.11.2024.