Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.I. Der Selbständigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25. pflegen wohl über die Unbestimmtheit in der römischen Verfas-sung zu klagen, über den Mangel fester Gränzen zwischen den verschiedenen Gewalten u. s. w., denn uns ist das politische Abcirklungs- und Abrichtungssystem, das die Einsicht, den po- litischen Takt und den guten Willen entbehrlich machen und einer Verfassung die mechanische, unausbleibliche Regelmäßig- keit eines Uhrwerkes geben will, zur zweiten Natur geworden. Jene vielen politischen Wegweiser, die in unseren Verfassungen aufgestellt sind, jene Schlagbäume und Zäune u. s. w. sie fan- den sich in der römischen Verfassung nicht verzeichnet; die Rö- mer trafen von selbst den rechten Weg. Den Beamten war ein sehr weiter Spielraum für ihre Gewalt eingeräumt, aber die stillschweigende Voraussetzung dieser Concession war die takt- volle, den Umständen angemessene Benutzung dieser Gewalt. Wie aber, wenn diese Erwartung ausnahmsweise nicht in Er- füllung ging? Ein sehr ausgedehntes Schutzmittel gewährte das Veto der übrigen Magistrate und der Tribunen. Dies Veto war der Ausdruck des lebendigen ungeschriebenen römischen Staats- rechts. Wie die sittenrichterliche Gewalt des römischen Censors eine Personifikation des römischen Sittlichkeitsgefühls enthielt, durch keinen Buchstaben gebunden, sondern ganz dem persönli- chen Ermessen anheimgestellt, so jenes Veto eine Personifikation des römischen Staatsrechts und der römischen Politik; wie die Censur ein Correktiv und Temperament der privatrechtlichen Gewalt des paterfamilias gewährte, so dies Veto das Correk- tiv und Temperament der staatsrechtlichen Gewalt der Beamten. Um nun anderer Mittel z. B. der Auspicien (B. 1 S. 329), des Collegiums der Augurn, das wir früher (B. 1 S. 331) als höchsten politischen Cassationshof bezeichneten, der Oberaufsicht des Senats u. s. w. nicht zu gedenken, so blieb als letztes und äußerstes Sicherungsmittel die Furcht vor einer nach Niederle- gung des Amts drohenden Anklage und Untersuchung. Nicht bloß Uebertretungen der Gesetze, sondern auch Handlungen, die dem Geist der Verfassung zuwider liefen, eine Nicht-Achtung I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25. pflegen wohl über die Unbeſtimmtheit in der römiſchen Verfaſ-ſung zu klagen, über den Mangel feſter Gränzen zwiſchen den verſchiedenen Gewalten u. ſ. w., denn uns iſt das politiſche Abcirklungs- und Abrichtungsſyſtem, das die Einſicht, den po- litiſchen Takt und den guten Willen entbehrlich machen und einer Verfaſſung die mechaniſche, unausbleibliche Regelmäßig- keit eines Uhrwerkes geben will, zur zweiten Natur geworden. Jene vielen politiſchen Wegweiſer, die in unſeren Verfaſſungen aufgeſtellt ſind, jene Schlagbäume und Zäune u. ſ. w. ſie fan- den ſich in der römiſchen Verfaſſung nicht verzeichnet; die Rö- mer trafen von ſelbſt den rechten Weg. Den Beamten war ein ſehr weiter Spielraum für ihre Gewalt eingeräumt, aber die ſtillſchweigende Vorausſetzung dieſer Conceſſion war die takt- volle, den Umſtänden angemeſſene Benutzung dieſer Gewalt. Wie aber, wenn dieſe Erwartung ausnahmsweiſe nicht in Er- füllung ging? Ein ſehr ausgedehntes Schutzmittel gewährte das Veto der übrigen Magiſtrate und der Tribunen. Dies Veto war der Ausdruck des lebendigen ungeſchriebenen römiſchen Staats- rechts. Wie die ſittenrichterliche Gewalt des römiſchen Cenſors eine Perſonifikation des römiſchen Sittlichkeitsgefühls enthielt, durch keinen Buchſtaben gebunden, ſondern ganz dem perſönli- chen Ermeſſen anheimgeſtellt, ſo jenes Veto eine Perſonifikation des römiſchen Staatsrechts und der römiſchen Politik; wie die Cenſur ein Correktiv und Temperament der privatrechtlichen Gewalt des paterfamilias gewährte, ſo dies Veto das Correk- tiv und Temperament der ſtaatsrechtlichen Gewalt der Beamten. Um nun anderer Mittel z. B. der Auſpicien (B. 1 S. 329), des Collegiums der Augurn, das wir früher (B. 1 S. 331) als höchſten politiſchen Caſſationshof bezeichneten, der Oberaufſicht des Senats u. ſ. w. nicht zu gedenken, ſo blieb als letztes und äußerſtes Sicherungsmittel die Furcht vor einer nach Niederle- gung des Amts drohenden Anklage und Unterſuchung. 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I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
pflegen wohl über die Unbeſtimmtheit in der römiſchen Verfaſ-
ſung zu klagen, über den Mangel feſter Gränzen zwiſchen den
verſchiedenen Gewalten u. ſ. w., denn uns iſt das politiſche
Abcirklungs- und Abrichtungsſyſtem, das die Einſicht, den po-
litiſchen Takt und den guten Willen entbehrlich machen und
einer Verfaſſung die mechaniſche, unausbleibliche Regelmäßig-
keit eines Uhrwerkes geben will, zur zweiten Natur geworden.
Jene vielen politiſchen Wegweiſer, die in unſeren Verfaſſungen
aufgeſtellt ſind, jene Schlagbäume und Zäune u. ſ. w. ſie fan-
den ſich in der römiſchen Verfaſſung nicht verzeichnet; die Rö-
mer trafen von ſelbſt den rechten Weg. Den Beamten war ein
ſehr weiter Spielraum für ihre Gewalt eingeräumt, aber die
ſtillſchweigende Vorausſetzung dieſer Conceſſion war die takt-
volle, den Umſtänden angemeſſene Benutzung dieſer Gewalt.
Wie aber, wenn dieſe Erwartung ausnahmsweiſe nicht in Er-
füllung ging? Ein ſehr ausgedehntes Schutzmittel gewährte das
Veto der übrigen Magiſtrate und der Tribunen. Dies Veto war
der Ausdruck des lebendigen ungeſchriebenen römiſchen Staats-
rechts. Wie die ſittenrichterliche Gewalt des römiſchen Cenſors
eine Perſonifikation des römiſchen Sittlichkeitsgefühls enthielt,
durch keinen Buchſtaben gebunden, ſondern ganz dem perſönli-
chen Ermeſſen anheimgeſtellt, ſo jenes Veto eine Perſonifikation
des römiſchen Staatsrechts und der römiſchen Politik; wie die
Cenſur ein Correktiv und Temperament der privatrechtlichen
Gewalt des paterfamilias gewährte, ſo dies Veto das Correk-
tiv und Temperament der ſtaatsrechtlichen Gewalt der Beamten.
Um nun anderer Mittel z. B. der Auſpicien (B. 1 S. 329),
des Collegiums der Augurn, das wir früher (B. 1 S. 331) als
höchſten politiſchen Caſſationshof bezeichneten, der Oberaufſicht
des Senats u. ſ. w. nicht zu gedenken, ſo blieb als letztes und
äußerſtes Sicherungsmittel die Furcht vor einer nach Niederle-
gung des Amts drohenden Anklage und Unterſuchung. Nicht
bloß Uebertretungen der Geſetze, ſondern auch Handlungen, die
dem Geiſt der Verfaſſung zuwider liefen, eine Nicht-Achtung
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