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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
der öffentlichen Meinung, eine Nachläßigkeit, Ungeschicklichkeit
u. s. w. enthielten, also z. B. eine mißbräuchliche Ausübung
des Veto25) zogen eine solche Anklage und Verurtheilung nach
sich.26)

Der Grund der bisher erörterten Verschiedenheit zwischen
dem Staatsrecht und Privatrecht liegt auf der Hand. Der pri-
vatrechtliche Verkehr läßt sich ohne Nachtheil festen, unbeugsa-
men Regeln unterordnen; er bewegt sich in denselben stereoty-
pen Formen, und Regelmäßigkeit, Sicherheit, Berechenbarkeit
ist gerade das, was er erstrebt; je genauer und bestimmter ihm
also seine Bahnen vorgezeichnet werden, desto vortheilhafter für
ihn. Anders der Staat und das öffentliche Leben. Die Lagen,
in die er hineingetrieben wird, so wie die zu ergreifenden Maß-
regeln sind nicht im voraus berechenbar, er muß auf das Unge-
wöhnliche gefaßt sein, muß also in seiner Verfassung die nöthige
Biegsamkeit und Elasticität besitzen, um dem Ungewöhnlichen
begegnen zu können. Ist dies nicht der Fall, hat vielmehr eine
politische Kurzsichtigkeit seine Verfassung nach dem Muster eines
Uhrwerks zugeschnitten, so bringt ein ungewöhnliches Ereigniß
entweder eine Lähmung hervor oder wird die Veranlassung zum
gewaltsamen Umsturz der Verfassung. Es beweist den hohen
politischen Instinkt der Römer, daß sie, so sehr sie auch von ih-
rem Privatrecht her an die größtmöglichste Fixirung und Objek-
tivirung des Rechts gewöhnt waren, doch dieser Richtung für
das Gebiet des öffentlichen Rechts nur in beschränkter Weise
huldigten.

In einem noch höhern Grade, als vom Staatsrecht gilt
diese Bemerkung vom Kriminalrecht. Der eigentliche Ablage-

25) Z. B. Livius V. 29.
26) Auf die Volksgerichte werden wir gleich übergehen. Beispiele der
Verurtheilung von Beamten auf Grund solcher Handlungen s. bei E. Platner
Quaestiones de jure criminum Romano.
S. 14 u. fl.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
der öffentlichen Meinung, eine Nachläßigkeit, Ungeſchicklichkeit
u. ſ. w. enthielten, alſo z. B. eine mißbräuchliche Ausübung
des Veto25) zogen eine ſolche Anklage und Verurtheilung nach
ſich.26)

Der Grund der bisher erörterten Verſchiedenheit zwiſchen
dem Staatsrecht und Privatrecht liegt auf der Hand. Der pri-
vatrechtliche Verkehr läßt ſich ohne Nachtheil feſten, unbeugſa-
men Regeln unterordnen; er bewegt ſich in denſelben ſtereoty-
pen Formen, und Regelmäßigkeit, Sicherheit, Berechenbarkeit
iſt gerade das, was er erſtrebt; je genauer und beſtimmter ihm
alſo ſeine Bahnen vorgezeichnet werden, deſto vortheilhafter für
ihn. Anders der Staat und das öffentliche Leben. Die Lagen,
in die er hineingetrieben wird, ſo wie die zu ergreifenden Maß-
regeln ſind nicht im voraus berechenbar, er muß auf das Unge-
wöhnliche gefaßt ſein, muß alſo in ſeiner Verfaſſung die nöthige
Biegſamkeit und Elaſticität beſitzen, um dem Ungewöhnlichen
begegnen zu können. Iſt dies nicht der Fall, hat vielmehr eine
politiſche Kurzſichtigkeit ſeine Verfaſſung nach dem Muſter eines
Uhrwerks zugeſchnitten, ſo bringt ein ungewöhnliches Ereigniß
entweder eine Lähmung hervor oder wird die Veranlaſſung zum
gewaltſamen Umſturz der Verfaſſung. Es beweiſt den hohen
politiſchen Inſtinkt der Römer, daß ſie, ſo ſehr ſie auch von ih-
rem Privatrecht her an die größtmöglichſte Fixirung und Objek-
tivirung des Rechts gewöhnt waren, doch dieſer Richtung für
das Gebiet des öffentlichen Rechts nur in beſchränkter Weiſe
huldigten.

In einem noch höhern Grade, als vom Staatsrecht gilt
dieſe Bemerkung vom Kriminalrecht. Der eigentliche Ablage-

25) Z. B. Livius V. 29.
26) Auf die Volksgerichte werden wir gleich übergehen. Beiſpiele der
Verurtheilung von Beamten auf Grund ſolcher Handlungen ſ. bei E. Platner
Quaestiones de jure criminum Romano.
S. 14 u. fl.
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[42/0056] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. der öffentlichen Meinung, eine Nachläßigkeit, Ungeſchicklichkeit u. ſ. w. enthielten, alſo z. B. eine mißbräuchliche Ausübung des Veto 25) zogen eine ſolche Anklage und Verurtheilung nach ſich. 26) Der Grund der bisher erörterten Verſchiedenheit zwiſchen dem Staatsrecht und Privatrecht liegt auf der Hand. Der pri- vatrechtliche Verkehr läßt ſich ohne Nachtheil feſten, unbeugſa- men Regeln unterordnen; er bewegt ſich in denſelben ſtereoty- pen Formen, und Regelmäßigkeit, Sicherheit, Berechenbarkeit iſt gerade das, was er erſtrebt; je genauer und beſtimmter ihm alſo ſeine Bahnen vorgezeichnet werden, deſto vortheilhafter für ihn. Anders der Staat und das öffentliche Leben. Die Lagen, in die er hineingetrieben wird, ſo wie die zu ergreifenden Maß- regeln ſind nicht im voraus berechenbar, er muß auf das Unge- wöhnliche gefaßt ſein, muß alſo in ſeiner Verfaſſung die nöthige Biegſamkeit und Elaſticität beſitzen, um dem Ungewöhnlichen begegnen zu können. Iſt dies nicht der Fall, hat vielmehr eine politiſche Kurzſichtigkeit ſeine Verfaſſung nach dem Muſter eines Uhrwerks zugeſchnitten, ſo bringt ein ungewöhnliches Ereigniß entweder eine Lähmung hervor oder wird die Veranlaſſung zum gewaltſamen Umſturz der Verfaſſung. Es beweiſt den hohen politiſchen Inſtinkt der Römer, daß ſie, ſo ſehr ſie auch von ih- rem Privatrecht her an die größtmöglichſte Fixirung und Objek- tivirung des Rechts gewöhnt waren, doch dieſer Richtung für das Gebiet des öffentlichen Rechts nur in beſchränkter Weiſe huldigten. In einem noch höhern Grade, als vom Staatsrecht gilt dieſe Bemerkung vom Kriminalrecht. Der eigentliche Ablage- 25) Z. B. Livius V. 29. 26) Auf die Volksgerichte werden wir gleich übergehen. Beiſpiele der Verurtheilung von Beamten auf Grund ſolcher Handlungen ſ. bei E. Platner Quaestiones de jure criminum Romano. S. 14 u. fl.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/56>, abgerufen am 21.11.2024.