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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
rungsprozeß desselben begann erst gegen das Ende der Republik
mit dem Aufkommen der die Volksgerichte vertretenden ständi-
gen Commissionen (quaestiones perpetuae). So lange das Volk
selbst in seinen Comitien die Strafgerichtsbarkeit ausübte, war
diese Form des Prozesses einer Fixirung der materiellen straf-
rechtlichen Grundsätze mindestens gesagt ungünstig. Allerdings
enthielten die Zwölf Tafeln einige spezielle criminalistische Be-
stimmungen und namentlich den allgemeinen Grundsatz, daß
Kapitalstrafen nur von den Centuriatcomitien erkannt werden
dürften, auch werden in einigen Fällen leges und mores als
Anhaltspunkte für die Anklage erwähnt,27) jedoch beweist die
Art und Weise, wie das Volk die ihm zustehende Gewalt aus-
übte, daß es sich im allgemeinen durch Regeln nicht gebunden
erachtete, sondern dem Totaleindruck des Falles, der Eingebung
des Augenblicks, ja, wir möchten von unserm heutigen Stand-
punkt sagen, der reinen Laune und Willkühr folgte. Wie
verschieden ward oft ein und dasselbe Verbrechen bestraft, und
welche Gründe, die nach unserer heutigen Auffassung mit der
Strafwürdigkeit des Angeklagten nichts gemein haben, gaben
hier nicht selten den Ausschlag!28)

Man hat jene Strafgerichtsbarkeit des Volks als eine Ver-
einigung der gesetzgebenden und richterlichen Gewalt bezeichnet,
die Urtheile Gesetze für den einzelnen Fall genannt,29) und die-

27) Liv. XXVI. 3 ... quominus seu legibus, seu moribus mallet,
anquireret.
28) S. hierüber die in Note 26 citirte Schrift von Platner quaest. I und
Geib Geschichte des römischen Kriminalprozesses S. 125--128.
29) Geib a. a. O. S. 126: "Gleich wie nach griechischen Rechtsbe-
griffen war es auch in Rom entschiedener Grundgedanke, daß die Richter in
Criminalsachen nicht bloß Diener des Gesetzes seien und als solche unter
denselben stünden, sondern daß sie zugleich gewissermaßen als dessen Be-
herrscher betrachtet werden müßten und daher so oft dies die Umstände ver-
langten, sogar über dasselbe sich erhoben, gleichsam die Gesetzgeber für den
einzelnen Fall vorstellen sollten." S. 127: "Das Volk war nicht bloß überall
der Sache nach Gesetzgeber und Richter, sondern es vermengte auf diese

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
rungsprozeß deſſelben begann erſt gegen das Ende der Republik
mit dem Aufkommen der die Volksgerichte vertretenden ſtändi-
gen Commiſſionen (quaestiones perpetuae). So lange das Volk
ſelbſt in ſeinen Comitien die Strafgerichtsbarkeit ausübte, war
dieſe Form des Prozeſſes einer Fixirung der materiellen ſtraf-
rechtlichen Grundſätze mindeſtens geſagt ungünſtig. Allerdings
enthielten die Zwölf Tafeln einige ſpezielle criminaliſtiſche Be-
ſtimmungen und namentlich den allgemeinen Grundſatz, daß
Kapitalſtrafen nur von den Centuriatcomitien erkannt werden
dürften, auch werden in einigen Fällen leges und mores als
Anhaltspunkte für die Anklage erwähnt,27) jedoch beweiſt die
Art und Weiſe, wie das Volk die ihm zuſtehende Gewalt aus-
übte, daß es ſich im allgemeinen durch Regeln nicht gebunden
erachtete, ſondern dem Totaleindruck des Falles, der Eingebung
des Augenblicks, ja, wir möchten von unſerm heutigen Stand-
punkt ſagen, der reinen Laune und Willkühr folgte. Wie
verſchieden ward oft ein und daſſelbe Verbrechen beſtraft, und
welche Gründe, die nach unſerer heutigen Auffaſſung mit der
Strafwürdigkeit des Angeklagten nichts gemein haben, gaben
hier nicht ſelten den Ausſchlag!28)

Man hat jene Strafgerichtsbarkeit des Volks als eine Ver-
einigung der geſetzgebenden und richterlichen Gewalt bezeichnet,
die Urtheile Geſetze für den einzelnen Fall genannt,29) und die-

27) Liv. XXVI. 3 … quominus seu legibus, seu moribus mallet,
anquireret.
28) S. hierüber die in Note 26 citirte Schrift von Platner quaest. I und
Geib Geſchichte des römiſchen Kriminalprozeſſes S. 125—128.
29) Geib a. a. O. S. 126: „Gleich wie nach griechiſchen Rechtsbe-
griffen war es auch in Rom entſchiedener Grundgedanke, daß die Richter in
Criminalſachen nicht bloß Diener des Geſetzes ſeien und als ſolche unter
denſelben ſtünden, ſondern daß ſie zugleich gewiſſermaßen als deſſen Be-
herrſcher betrachtet werden müßten und daher ſo oft dies die Umſtände ver-
langten, ſogar über daſſelbe ſich erhoben, gleichſam die Geſetzgeber für den
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der Sache nach Geſetzgeber und Richter, ſondern es vermengte auf dieſe
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[43/0057] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25. rungsprozeß deſſelben begann erſt gegen das Ende der Republik mit dem Aufkommen der die Volksgerichte vertretenden ſtändi- gen Commiſſionen (quaestiones perpetuae). So lange das Volk ſelbſt in ſeinen Comitien die Strafgerichtsbarkeit ausübte, war dieſe Form des Prozeſſes einer Fixirung der materiellen ſtraf- rechtlichen Grundſätze mindeſtens geſagt ungünſtig. Allerdings enthielten die Zwölf Tafeln einige ſpezielle criminaliſtiſche Be- ſtimmungen und namentlich den allgemeinen Grundſatz, daß Kapitalſtrafen nur von den Centuriatcomitien erkannt werden dürften, auch werden in einigen Fällen leges und mores als Anhaltspunkte für die Anklage erwähnt, 27) jedoch beweiſt die Art und Weiſe, wie das Volk die ihm zuſtehende Gewalt aus- übte, daß es ſich im allgemeinen durch Regeln nicht gebunden erachtete, ſondern dem Totaleindruck des Falles, der Eingebung des Augenblicks, ja, wir möchten von unſerm heutigen Stand- punkt ſagen, der reinen Laune und Willkühr folgte. Wie verſchieden ward oft ein und daſſelbe Verbrechen beſtraft, und welche Gründe, die nach unſerer heutigen Auffaſſung mit der Strafwürdigkeit des Angeklagten nichts gemein haben, gaben hier nicht ſelten den Ausſchlag! 28) Man hat jene Strafgerichtsbarkeit des Volks als eine Ver- einigung der geſetzgebenden und richterlichen Gewalt bezeichnet, die Urtheile Geſetze für den einzelnen Fall genannt, 29) und die- 27) Liv. XXVI. 3 … quominus seu legibus, seu moribus mallet, anquireret. 28) S. hierüber die in Note 26 citirte Schrift von Platner quaest. I und Geib Geſchichte des römiſchen Kriminalprozeſſes S. 125—128. 29) Geib a. a. O. S. 126: „Gleich wie nach griechiſchen Rechtsbe- griffen war es auch in Rom entſchiedener Grundgedanke, daß die Richter in Criminalſachen nicht bloß Diener des Geſetzes ſeien und als ſolche unter denſelben ſtünden, ſondern daß ſie zugleich gewiſſermaßen als deſſen Be- herrſcher betrachtet werden müßten und daher ſo oft dies die Umſtände ver- langten, ſogar über daſſelbe ſich erhoben, gleichſam die Geſetzgeber für den einzelnen Fall vorſtellen ſollten.“ S. 127: „Das Volk war nicht bloß überall der Sache nach Geſetzgeber und Richter, ſondern es vermengte auf dieſe

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/57>, abgerufen am 19.05.2024.