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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
ser Gesichtspunkt ist allerdings zutreffend. Woher aber diese
Erscheinung, daß das Volk des Rechts jene Trennung zwischen
Recht und Rechtsanwendung, die eins der ersten Requisite für
die Selbständigkeit und Gleichmäßigkeit des Rechts ist, auf dem
Gebiete des Kriminalrechts so spät vollzogen hat? daß, während
das ganze Civilrecht im höchsten Grade von der Tendenz nach
Festigkeit, Bestimmtheit, Objektivität, Gleichmäßigkeit durch-
drungen ist, das Kriminalrecht sich so lange im gerade entgegen-
gesetzten Zustande der äußersten Flüssigkeit und völligen Befan-
genheit in der Subjektivität der Gefühlsstimmung zu erhalten
vermochte? Es hängt dies, wie ich glaube, mit der antiken
Vorstellungsweise von dem Verhältniß des Bürgers zum Staat
zusammen. Nach unserer heutigen Auffassung ist dies ein bloß
rechtliches, d. h. der Staat verlangt von seinen Mitgliedern eine
äußere Handlungsweise, die Gesinnung, aus der sie hervorgeht,
ist ihm dabei nicht wesentlich. Der antike Staat hingegen ver-
langt nicht Handlungen, sondern eine bestimmte Gesinnung,
aus der die nöthigen Handlungen dann von selbst im reichsten
Maße und in schönster, edelster Weise hervorquellen, die Ge-
sinnung der vollsten Liebe und Hingebung. Seine Anforderung
ist also sittlicher, innerlicher Art, die des heutigen Staats
rechtlicher, äußerlicher. Nicht durch ein äußeres legales
Handeln konnte sich der Grieche und Römer mit seinem Staat ab-
finden, nicht auf dem Fuße gegenseitiger Abrechnung standen sie
zu einander, bei dem es wohl gar nicht einmal für unehrenhaft
gilt, den Staat zu übervortheilen, wie dies bei uns der Fall ist;
sondern der Bürger gehörte mit allem, was er war und hatte,
dem Staat an. Kein Gesetz brauchte ihn zu lehren, wie er sich
äußerlich gegen den Staat zu verhalten habe, so wenig wie die
Liebe solcher äußeren Anweisungen bedarf; das eigne Gefühl

Weise auch sehr häufig der Zeit nach jene beiden Eigenschaften, und dieselben
flossen eben daher so sehr zusammen, daß sie selbst im Begriff sich kaum von
einander unterscheiden lassen.".

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſer Geſichtspunkt iſt allerdings zutreffend. Woher aber dieſe
Erſcheinung, daß das Volk des Rechts jene Trennung zwiſchen
Recht und Rechtsanwendung, die eins der erſten Requiſite für
die Selbſtändigkeit und Gleichmäßigkeit des Rechts iſt, auf dem
Gebiete des Kriminalrechts ſo ſpät vollzogen hat? daß, während
das ganze Civilrecht im höchſten Grade von der Tendenz nach
Feſtigkeit, Beſtimmtheit, Objektivität, Gleichmäßigkeit durch-
drungen iſt, das Kriminalrecht ſich ſo lange im gerade entgegen-
geſetzten Zuſtande der äußerſten Flüſſigkeit und völligen Befan-
genheit in der Subjektivität der Gefühlsſtimmung zu erhalten
vermochte? Es hängt dies, wie ich glaube, mit der antiken
Vorſtellungsweiſe von dem Verhältniß des Bürgers zum Staat
zuſammen. Nach unſerer heutigen Auffaſſung iſt dies ein bloß
rechtliches, d. h. der Staat verlangt von ſeinen Mitgliedern eine
äußere Handlungsweiſe, die Geſinnung, aus der ſie hervorgeht,
iſt ihm dabei nicht weſentlich. Der antike Staat hingegen ver-
langt nicht Handlungen, ſondern eine beſtimmte Geſinnung,
aus der die nöthigen Handlungen dann von ſelbſt im reichſten
Maße und in ſchönſter, edelſter Weiſe hervorquellen, die Ge-
ſinnung der vollſten Liebe und Hingebung. Seine Anforderung
iſt alſo ſittlicher, innerlicher Art, die des heutigen Staats
rechtlicher, äußerlicher. Nicht durch ein äußeres legales
Handeln konnte ſich der Grieche und Römer mit ſeinem Staat ab-
finden, nicht auf dem Fuße gegenſeitiger Abrechnung ſtanden ſie
zu einander, bei dem es wohl gar nicht einmal für unehrenhaft
gilt, den Staat zu übervortheilen, wie dies bei uns der Fall iſt;
ſondern der Bürger gehörte mit allem, was er war und hatte,
dem Staat an. Kein Geſetz brauchte ihn zu lehren, wie er ſich
äußerlich gegen den Staat zu verhalten habe, ſo wenig wie die
Liebe ſolcher äußeren Anweiſungen bedarf; das eigne Gefühl

Weiſe auch ſehr häufig der Zeit nach jene beiden Eigenſchaften, und dieſelben
floſſen eben daher ſo ſehr zuſammen, daß ſie ſelbſt im Begriff ſich kaum von
einander unterſcheiden laſſen.“.
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[44/0058] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. ſer Geſichtspunkt iſt allerdings zutreffend. Woher aber dieſe Erſcheinung, daß das Volk des Rechts jene Trennung zwiſchen Recht und Rechtsanwendung, die eins der erſten Requiſite für die Selbſtändigkeit und Gleichmäßigkeit des Rechts iſt, auf dem Gebiete des Kriminalrechts ſo ſpät vollzogen hat? daß, während das ganze Civilrecht im höchſten Grade von der Tendenz nach Feſtigkeit, Beſtimmtheit, Objektivität, Gleichmäßigkeit durch- drungen iſt, das Kriminalrecht ſich ſo lange im gerade entgegen- geſetzten Zuſtande der äußerſten Flüſſigkeit und völligen Befan- genheit in der Subjektivität der Gefühlsſtimmung zu erhalten vermochte? Es hängt dies, wie ich glaube, mit der antiken Vorſtellungsweiſe von dem Verhältniß des Bürgers zum Staat zuſammen. Nach unſerer heutigen Auffaſſung iſt dies ein bloß rechtliches, d. h. der Staat verlangt von ſeinen Mitgliedern eine äußere Handlungsweiſe, die Geſinnung, aus der ſie hervorgeht, iſt ihm dabei nicht weſentlich. Der antike Staat hingegen ver- langt nicht Handlungen, ſondern eine beſtimmte Geſinnung, aus der die nöthigen Handlungen dann von ſelbſt im reichſten Maße und in ſchönſter, edelſter Weiſe hervorquellen, die Ge- ſinnung der vollſten Liebe und Hingebung. Seine Anforderung iſt alſo ſittlicher, innerlicher Art, die des heutigen Staats rechtlicher, äußerlicher. Nicht durch ein äußeres legales Handeln konnte ſich der Grieche und Römer mit ſeinem Staat ab- finden, nicht auf dem Fuße gegenſeitiger Abrechnung ſtanden ſie zu einander, bei dem es wohl gar nicht einmal für unehrenhaft gilt, den Staat zu übervortheilen, wie dies bei uns der Fall iſt; ſondern der Bürger gehörte mit allem, was er war und hatte, dem Staat an. Kein Geſetz brauchte ihn zu lehren, wie er ſich äußerlich gegen den Staat zu verhalten habe, ſo wenig wie die Liebe ſolcher äußeren Anweiſungen bedarf; das eigne Gefühl 29) 29) Weiſe auch ſehr häufig der Zeit nach jene beiden Eigenſchaften, und dieſelben floſſen eben daher ſo ſehr zuſammen, daß ſie ſelbſt im Begriff ſich kaum von einander unterſcheiden laſſen.“.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/58>, abgerufen am 21.11.2024.