Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.I. Der Selbständigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25. sagte ihm dies. Darum war denn auch die strafrechtliche Cen-sur, die der Staat gegen die Bürger ausübte, nicht auf einzelne, äußere Handlungen gerichtet, sondern sie umfaßte, wie der Staat selbst, das Individuum in seiner ganzen Persönlichkeit, und die strafbare Handlung, die bei uns die Bedeutung hat, Gegenstand der Untersuchung zu sein, hatte im Alterthum nur die, letztere zu veranlassen. Das Volk und der Verbrecher stehen sich hier in ihrer Totalität gegenüber; nicht einzelne Rechts- sätze und Handlungen. 30) Das Volk mit seiner ganzen Denk- und Gefühlsweise ist der Spiegel, worin der Verbrecher sich in seiner ganzen sittlichen Existenz beschauen und zur Erkenntniß seines Abfalls vom nationalen Wesen gelangen soll; es ist das nationale Gewissen, das hier in seiner ganzen Stärke an ihn herantritt, und dem gegenüber er sich nicht mit der Ausflucht der Unkenntniß oder des Mangels an ausdrücklichen gesetzlichen Ver- boten entschuldigen kann. 31) Nicht die That wird schließlich an ihm gestraft, sondern die Gesinnung aus der sie geflossen, und die mit der That keineswegs erst entstanden, sondern nur bei Gelegenheit derselben offenkundig geworden ist; nicht die Ueber- eilung einer schwachen Stunde, sondern der Werth des ganzen Lebens wird einer Prüfung unterworfen. Es hat nun diese ganze Behandlungsweise das Anziehende 30) Ein auf gleicher Stufe stehendes germanisches Institut war das der Eideshelfer, insofern nämlich als auch in ihm sich die Trennung zwischen That und Thäter noch nicht vollzogen hatte, die Eideshelfer vielmehr in derselben Weise, wie das Volk in den judiciis publicis statt der That den Charakter des Thäters ins Auge faßte, statt der zu beweisenden Handlung die Glaub- würdigkeit des Beweisführers beschworen. 31) Civem, sagt Platner a. a. O. S. 8, scire debere ex notione
reipublicae, cui adscriptus est, quae peccata sint fugienda, si in poe- nam incurrere nolit. Legem hic omnino deesse dici nequit, verum enim vero lex, qua poena infligitur, est illa omnium civium communis con- scientia, quae cum uno quoque quasi nascitur et adolescit, ita ut a ne- mine ignorari possit, qui vinculo reipublicae illigatus teneatur. I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25. ſagte ihm dies. Darum war denn auch die ſtrafrechtliche Cen-ſur, die der Staat gegen die Bürger ausübte, nicht auf einzelne, äußere Handlungen gerichtet, ſondern ſie umfaßte, wie der Staat ſelbſt, das Individuum in ſeiner ganzen Perſönlichkeit, und die ſtrafbare Handlung, die bei uns die Bedeutung hat, Gegenſtand der Unterſuchung zu ſein, hatte im Alterthum nur die, letztere zu veranlaſſen. Das Volk und der Verbrecher ſtehen ſich hier in ihrer Totalität gegenüber; nicht einzelne Rechts- ſätze und Handlungen. 30) Das Volk mit ſeiner ganzen Denk- und Gefühlsweiſe iſt der Spiegel, worin der Verbrecher ſich in ſeiner ganzen ſittlichen Exiſtenz beſchauen und zur Erkenntniß ſeines Abfalls vom nationalen Weſen gelangen ſoll; es iſt das nationale Gewiſſen, das hier in ſeiner ganzen Stärke an ihn herantritt, und dem gegenüber er ſich nicht mit der Ausflucht der Unkenntniß oder des Mangels an ausdrücklichen geſetzlichen Ver- boten entſchuldigen kann. 31) Nicht die That wird ſchließlich an ihm geſtraft, ſondern die Geſinnung aus der ſie gefloſſen, und die mit der That keineswegs erſt entſtanden, ſondern nur bei Gelegenheit derſelben offenkundig geworden iſt; nicht die Ueber- eilung einer ſchwachen Stunde, ſondern der Werth des ganzen Lebens wird einer Prüfung unterworfen. Es hat nun dieſe ganze Behandlungsweiſe das Anziehende 30) Ein auf gleicher Stufe ſtehendes germaniſches Inſtitut war das der Eideshelfer, inſofern nämlich als auch in ihm ſich die Trennung zwiſchen That und Thäter noch nicht vollzogen hatte, die Eideshelfer vielmehr in derſelben Weiſe, wie das Volk in den judiciis publicis ſtatt der That den Charakter des Thäters ins Auge faßte, ſtatt der zu beweiſenden Handlung die Glaub- würdigkeit des Beweisführers beſchworen. 31) Civem, ſagt Platner a. a. O. S. 8, scire debere ex notione
reipublicae, cui adscriptus est, quae peccata sint fugienda, si in poe- nam incurrere nolit. Legem hic omnino deesse dici nequit, verum enim vero lex, qua poena infligitur, est illa omnium civium communis con- scientia, quae cum uno quoque quasi nascitur et adolescit, ita ut a ne- mine ignorari possit, qui vinculo reipublicae illigatus teneatur. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0059" n="45"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.</fw><lb/> ſagte ihm dies. Darum war denn auch die ſtrafrechtliche Cen-<lb/> ſur, die der Staat gegen die Bürger ausübte, nicht auf einzelne,<lb/> äußere Handlungen gerichtet, ſondern ſie umfaßte, wie der<lb/> Staat ſelbſt, das Individuum in ſeiner ganzen Perſönlichkeit,<lb/> und die ſtrafbare Handlung, die bei uns die Bedeutung hat,<lb/><hi rendition="#g">Gegenſtand</hi> der Unterſuchung zu ſein, hatte im Alterthum<lb/> nur die, letztere zu <hi rendition="#g">veranlaſſen</hi>. Das Volk und der Verbrecher<lb/> ſtehen ſich hier in ihrer Totalität gegenüber; nicht einzelne Rechts-<lb/> ſätze und Handlungen. <note place="foot" n="30)">Ein auf gleicher Stufe ſtehendes germaniſches Inſtitut war das der<lb/> Eideshelfer, inſofern nämlich als auch in ihm ſich die Trennung zwiſchen That<lb/> und Thäter noch nicht vollzogen hatte, die Eideshelfer vielmehr in derſelben<lb/> Weiſe, wie das Volk in den <hi rendition="#aq">judiciis publicis</hi> ſtatt der That den Charakter<lb/> des Thäters ins Auge faßte, ſtatt der zu beweiſenden Handlung die Glaub-<lb/> würdigkeit des Beweisführers beſchworen.</note> Das Volk mit ſeiner ganzen Denk-<lb/> und Gefühlsweiſe iſt der Spiegel, worin der Verbrecher ſich<lb/> in ſeiner ganzen ſittlichen Exiſtenz beſchauen und zur Erkenntniß<lb/> ſeines Abfalls vom nationalen Weſen gelangen ſoll; es iſt das<lb/> nationale Gewiſſen, das hier in ſeiner ganzen Stärke an ihn<lb/> herantritt, und dem gegenüber er ſich nicht mit der Ausflucht der<lb/> Unkenntniß oder des Mangels an ausdrücklichen geſetzlichen Ver-<lb/> boten entſchuldigen kann. <note place="foot" n="31)"><hi rendition="#aq">Civem,</hi> ſagt Platner a. a. O. S. 8, <hi rendition="#aq">scire debere ex notione<lb/> reipublicae, cui adscriptus est, quae peccata sint fugienda, si in poe-<lb/> nam incurrere nolit. Legem hic omnino deesse dici nequit, verum enim<lb/> vero lex, qua poena infligitur, est illa omnium civium communis con-<lb/> scientia, quae cum uno quoque quasi nascitur et adolescit, ita ut a ne-<lb/> mine ignorari possit, qui vinculo reipublicae illigatus teneatur.</hi></note> Nicht die That wird ſchließlich an<lb/> ihm geſtraft, ſondern die Geſinnung aus der ſie gefloſſen, und<lb/> die mit der That keineswegs erſt entſtanden, ſondern nur bei<lb/> Gelegenheit derſelben offenkundig geworden iſt; nicht die Ueber-<lb/> eilung einer ſchwachen Stunde, ſondern der Werth des ganzen<lb/> Lebens wird einer Prüfung unterworfen.</p><lb/> <p>Es hat nun dieſe ganze Behandlungsweiſe das Anziehende<lb/> und Beſtechende, das das Recht auf dem Gefühlsſtandpunkt<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [45/0059]
I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 1. Die äußere Form des Rechts. §. 25.
ſagte ihm dies. Darum war denn auch die ſtrafrechtliche Cen-
ſur, die der Staat gegen die Bürger ausübte, nicht auf einzelne,
äußere Handlungen gerichtet, ſondern ſie umfaßte, wie der
Staat ſelbſt, das Individuum in ſeiner ganzen Perſönlichkeit,
und die ſtrafbare Handlung, die bei uns die Bedeutung hat,
Gegenſtand der Unterſuchung zu ſein, hatte im Alterthum
nur die, letztere zu veranlaſſen. Das Volk und der Verbrecher
ſtehen ſich hier in ihrer Totalität gegenüber; nicht einzelne Rechts-
ſätze und Handlungen. 30) Das Volk mit ſeiner ganzen Denk-
und Gefühlsweiſe iſt der Spiegel, worin der Verbrecher ſich
in ſeiner ganzen ſittlichen Exiſtenz beſchauen und zur Erkenntniß
ſeines Abfalls vom nationalen Weſen gelangen ſoll; es iſt das
nationale Gewiſſen, das hier in ſeiner ganzen Stärke an ihn
herantritt, und dem gegenüber er ſich nicht mit der Ausflucht der
Unkenntniß oder des Mangels an ausdrücklichen geſetzlichen Ver-
boten entſchuldigen kann. 31) Nicht die That wird ſchließlich an
ihm geſtraft, ſondern die Geſinnung aus der ſie gefloſſen, und
die mit der That keineswegs erſt entſtanden, ſondern nur bei
Gelegenheit derſelben offenkundig geworden iſt; nicht die Ueber-
eilung einer ſchwachen Stunde, ſondern der Werth des ganzen
Lebens wird einer Prüfung unterworfen.
Es hat nun dieſe ganze Behandlungsweiſe das Anziehende
und Beſtechende, das das Recht auf dem Gefühlsſtandpunkt
30) Ein auf gleicher Stufe ſtehendes germaniſches Inſtitut war das der
Eideshelfer, inſofern nämlich als auch in ihm ſich die Trennung zwiſchen That
und Thäter noch nicht vollzogen hatte, die Eideshelfer vielmehr in derſelben
Weiſe, wie das Volk in den judiciis publicis ſtatt der That den Charakter
des Thäters ins Auge faßte, ſtatt der zu beweiſenden Handlung die Glaub-
würdigkeit des Beweisführers beſchworen.
31) Civem, ſagt Platner a. a. O. S. 8, scire debere ex notione
reipublicae, cui adscriptus est, quae peccata sint fugienda, si in poe-
nam incurrere nolit. Legem hic omnino deesse dici nequit, verum enim
vero lex, qua poena infligitur, est illa omnium civium communis con-
scientia, quae cum uno quoque quasi nascitur et adolescit, ita ut a ne-
mine ignorari possit, qui vinculo reipublicae illigatus teneatur.
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