Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Der Selbständigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
sorischen Sittenpolizei.37) Warum entwickelte sich nicht auch hier
in ähnlicher Weise wie in der Praxis der Prätoren ein edic-
tum perpetuum,
38) ein officieller römischer Sittlichkeitscodex?
Daran zeigt sich wieder der römische Takt, daß er hier das We-
sen der freien Sitte und des individuellen Sittlichkeitsgefühls
im Gegensatz zu der Gebundenheit und Objektivität des Rechts
festzuhalten verstand. Er war der Versuchung gewachsen, die
in nicht geringem Grade in dem Charakter der Censur als einer
Staatsanstalt lag, und der der Geist des Orients erlegen wäre,
der Versuchung nämlich, die sittlichen Grundsätze zu fixiren und
zu normiren und dadurch die freie Bewegung des sittlichen Gei-
stes zu erschweren. Die römische Religiösität erstarrte in dieser
Weise, die römische Sittlichkeit nicht, und darum steht letztere
auch höher, als erstere.39)

Wie Recht und Sitte, so stehen sich auch der Richterspruch
und das censorische Urtheil entgegen.40) Ersterer beruht nach
rechtlicher Fiction auf objektiver Wahrheit und ist unumstößlich,
so wie er erlassen. Das Urtheil des Censors hingegen enthält
den Ausdruck des subjektiven sittlichen Gefühls und ist wider-
ruflich. Der Spruch des Richters hat rechtliche Wirkungen, der
des Censors nicht. Was letzterer auch geboten und verboten
haben mag, rechtlich bindet es nicht.41) Das Mittel, das ihm

37) Varro de lingua lat. lib. V. p. 58. Praetorium jus ad legem,
censorium judicium ad aequum aestimabatur.
38) Es werden Edikte der Censoren erwähnt, wodurch gewisse Arten des
Luxus untersagt wurden, Plinius hist. natur. lib. VIII c. 77, 78, 82, lib.
XIII c. 5,
allein daß sie keine Antwort auf die im Text aufgeworfene Frage
enthalten, brauche ich kaum zu bemerken.
39) Daß die Religiösität und Sittlichkeit in Rom sich gegenüberstellen
lassen, darüber habe ich mich schon im 1. B. S. 316 ausgesprochen.
40) Cicero pro Cluentio c. 42: Majores nostri (animadversionem et
auctoritatem censoriam) nunquam neque judicium nominaverunt, neque
perinde ut rem judicatam observaverunt.
41) So bedeutend auch der Einfluß des Censors, so hoch die Achtung war,
deren er genoß, so würde er doch nie gewagt haben, die Prätension zu erhe-

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
ſoriſchen Sittenpolizei.37) Warum entwickelte ſich nicht auch hier
in ähnlicher Weiſe wie in der Praxis der Prätoren ein edic-
tum perpetuum,
38) ein officieller römiſcher Sittlichkeitscodex?
Daran zeigt ſich wieder der römiſche Takt, daß er hier das We-
ſen der freien Sitte und des individuellen Sittlichkeitsgefühls
im Gegenſatz zu der Gebundenheit und Objektivität des Rechts
feſtzuhalten verſtand. Er war der Verſuchung gewachſen, die
in nicht geringem Grade in dem Charakter der Cenſur als einer
Staatsanſtalt lag, und der der Geiſt des Orients erlegen wäre,
der Verſuchung nämlich, die ſittlichen Grundſätze zu fixiren und
zu normiren und dadurch die freie Bewegung des ſittlichen Gei-
ſtes zu erſchweren. Die römiſche Religiöſität erſtarrte in dieſer
Weiſe, die römiſche Sittlichkeit nicht, und darum ſteht letztere
auch höher, als erſtere.39)

Wie Recht und Sitte, ſo ſtehen ſich auch der Richterſpruch
und das cenſoriſche Urtheil entgegen.40) Erſterer beruht nach
rechtlicher Fiction auf objektiver Wahrheit und iſt unumſtößlich,
ſo wie er erlaſſen. Das Urtheil des Cenſors hingegen enthält
den Ausdruck des ſubjektiven ſittlichen Gefühls und iſt wider-
ruflich. Der Spruch des Richters hat rechtliche Wirkungen, der
des Cenſors nicht. Was letzterer auch geboten und verboten
haben mag, rechtlich bindet es nicht.41) Das Mittel, das ihm

37) Varro de lingua lat. lib. V. p. 58. Praetorium jus ad legem,
censorium judicium ad aequum aestimabatur.
38) Es werden Edikte der Cenſoren erwähnt, wodurch gewiſſe Arten des
Luxus unterſagt wurden, Plinius hist. natur. lib. VIII c. 77, 78, 82, lib.
XIII c. 5,
allein daß ſie keine Antwort auf die im Text aufgeworfene Frage
enthalten, brauche ich kaum zu bemerken.
39) Daß die Religiöſität und Sittlichkeit in Rom ſich gegenüberſtellen
laſſen, darüber habe ich mich ſchon im 1. B. S. 316 ausgeſprochen.
40) Cicero pro Cluentio c. 42: Majores nostri (animadversionem et
auctoritatem censoriam) nunquam neque judicium nominaverunt, neque
perinde ut rem judicatam observaverunt.
41) So bedeutend auch der Einfluß des Cenſors, ſo hoch die Achtung war,
deren er genoß, ſo würde er doch nie gewagt haben, die Prätenſion zu erhe-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0067" n="53"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Der Selb&#x017F;tändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.</fw><lb/>
&#x017F;ori&#x017F;chen Sittenpolizei.<note place="foot" n="37)"><hi rendition="#aq">Varro de lingua lat. lib. V. p. 58. Praetorium jus ad legem,<lb/>
censorium judicium ad aequum aestimabatur.</hi></note> Warum entwickelte &#x017F;ich nicht auch hier<lb/>
in ähnlicher Wei&#x017F;e wie in der Praxis der Prätoren ein <hi rendition="#aq">edic-<lb/>
tum perpetuum,</hi><note place="foot" n="38)">Es werden Edikte der Cen&#x017F;oren erwähnt, wodurch gewi&#x017F;&#x017F;e Arten des<lb/>
Luxus unter&#x017F;agt wurden, <hi rendition="#aq">Plinius hist. natur. lib. VIII c. 77, 78, 82, lib.<lb/>
XIII c. 5,</hi> allein daß &#x017F;ie keine Antwort auf die im Text aufgeworfene Frage<lb/>
enthalten, brauche ich kaum zu bemerken.</note> ein officieller römi&#x017F;cher Sittlichkeitscodex?<lb/>
Daran zeigt &#x017F;ich wieder der römi&#x017F;che Takt, daß er hier das We-<lb/>
&#x017F;en der freien Sitte und des individuellen Sittlichkeitsgefühls<lb/>
im Gegen&#x017F;atz zu der Gebundenheit und Objektivität des Rechts<lb/>
fe&#x017F;tzuhalten ver&#x017F;tand. Er war der Ver&#x017F;uchung gewach&#x017F;en, die<lb/>
in nicht geringem Grade in dem Charakter der Cen&#x017F;ur als einer<lb/>
Staatsan&#x017F;talt lag, und der der Gei&#x017F;t des Orients erlegen wäre,<lb/>
der Ver&#x017F;uchung nämlich, die &#x017F;ittlichen Grund&#x017F;ätze zu fixiren und<lb/>
zu normiren und dadurch die freie Bewegung des &#x017F;ittlichen Gei-<lb/>
&#x017F;tes zu er&#x017F;chweren. Die römi&#x017F;che Religiö&#x017F;ität er&#x017F;tarrte in die&#x017F;er<lb/>
Wei&#x017F;e, die römi&#x017F;che Sittlichkeit nicht, und darum &#x017F;teht letztere<lb/>
auch höher, als er&#x017F;tere.<note place="foot" n="39)">Daß die Religiö&#x017F;ität und Sittlichkeit in Rom &#x017F;ich gegenüber&#x017F;tellen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, darüber habe ich mich &#x017F;chon im 1. B. S. 316 ausge&#x017F;prochen.</note></p><lb/>
                <p>Wie Recht und Sitte, &#x017F;o &#x017F;tehen &#x017F;ich auch der Richter&#x017F;pruch<lb/>
und das cen&#x017F;ori&#x017F;che Urtheil entgegen.<note place="foot" n="40)"><hi rendition="#aq">Cicero pro Cluentio c. 42: Majores nostri (animadversionem et<lb/>
auctoritatem censoriam) nunquam neque judicium nominaverunt, neque<lb/>
perinde ut rem judicatam observaverunt.</hi></note> Er&#x017F;terer beruht nach<lb/>
rechtlicher Fiction auf objektiver Wahrheit und i&#x017F;t unum&#x017F;tößlich,<lb/>
&#x017F;o wie er erla&#x017F;&#x017F;en. Das Urtheil des Cen&#x017F;ors hingegen enthält<lb/>
den Ausdruck des &#x017F;ubjektiven &#x017F;ittlichen Gefühls und i&#x017F;t wider-<lb/>
ruflich. Der Spruch des Richters hat rechtliche Wirkungen, der<lb/>
des Cen&#x017F;ors nicht. Was letzterer auch geboten und verboten<lb/>
haben mag, rechtlich bindet es nicht.<note xml:id="seg2pn_3_1" next="#seg2pn_3_2" place="foot" n="41)">So bedeutend auch der Einfluß des Cen&#x017F;ors, &#x017F;o hoch die Achtung war,<lb/>
deren er genoß, &#x017F;o würde er doch nie gewagt haben, die Präten&#x017F;ion zu erhe-</note> Das Mittel, das ihm<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[53/0067] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26. ſoriſchen Sittenpolizei. 37) Warum entwickelte ſich nicht auch hier in ähnlicher Weiſe wie in der Praxis der Prätoren ein edic- tum perpetuum, 38) ein officieller römiſcher Sittlichkeitscodex? Daran zeigt ſich wieder der römiſche Takt, daß er hier das We- ſen der freien Sitte und des individuellen Sittlichkeitsgefühls im Gegenſatz zu der Gebundenheit und Objektivität des Rechts feſtzuhalten verſtand. Er war der Verſuchung gewachſen, die in nicht geringem Grade in dem Charakter der Cenſur als einer Staatsanſtalt lag, und der der Geiſt des Orients erlegen wäre, der Verſuchung nämlich, die ſittlichen Grundſätze zu fixiren und zu normiren und dadurch die freie Bewegung des ſittlichen Gei- ſtes zu erſchweren. Die römiſche Religiöſität erſtarrte in dieſer Weiſe, die römiſche Sittlichkeit nicht, und darum ſteht letztere auch höher, als erſtere. 39) Wie Recht und Sitte, ſo ſtehen ſich auch der Richterſpruch und das cenſoriſche Urtheil entgegen. 40) Erſterer beruht nach rechtlicher Fiction auf objektiver Wahrheit und iſt unumſtößlich, ſo wie er erlaſſen. Das Urtheil des Cenſors hingegen enthält den Ausdruck des ſubjektiven ſittlichen Gefühls und iſt wider- ruflich. Der Spruch des Richters hat rechtliche Wirkungen, der des Cenſors nicht. Was letzterer auch geboten und verboten haben mag, rechtlich bindet es nicht. 41) Das Mittel, das ihm 37) Varro de lingua lat. lib. V. p. 58. Praetorium jus ad legem, censorium judicium ad aequum aestimabatur. 38) Es werden Edikte der Cenſoren erwähnt, wodurch gewiſſe Arten des Luxus unterſagt wurden, Plinius hist. natur. lib. VIII c. 77, 78, 82, lib. XIII c. 5, allein daß ſie keine Antwort auf die im Text aufgeworfene Frage enthalten, brauche ich kaum zu bemerken. 39) Daß die Religiöſität und Sittlichkeit in Rom ſich gegenüberſtellen laſſen, darüber habe ich mich ſchon im 1. B. S. 316 ausgeſprochen. 40) Cicero pro Cluentio c. 42: Majores nostri (animadversionem et auctoritatem censoriam) nunquam neque judicium nominaverunt, neque perinde ut rem judicatam observaverunt. 41) So bedeutend auch der Einfluß des Cenſors, ſo hoch die Achtung war, deren er genoß, ſo würde er doch nie gewagt haben, die Prätenſion zu erhe-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/67
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/67>, abgerufen am 27.05.2024.