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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. 3. Selbsterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
wir starr und unbeweglich, aber wenn die Zeit kommt und die
rechten Voraussetzungen vorhanden sind, werden die Buchstaben
lebendig, im Gesetze regt es sich wie im Samenkorn, aus dem
Samenkorn wird eine Pflanze und oft ein stattlicher Baum.
Die dürren Buchstaben werden zu Begriffen, die Begriffe zeugen
neue Rechtssätze (B. 1 S. 29) und so wird die Aufzeichnung
des Rechts, die dasselbe scheinbar der Bewegung
beraubt, in der That ein Mittel, um ein reiche-
res Leben in demselben zu erwecken
. Man darf die
Sache nicht so ansehen, als ob diese Entwicklung nichts Neues
zu Tage förderte, weil sie nur eine Entfaltung des in das Gesetz
hineingelegten Inhalts sei. Denn in Wirklichkeit bringt sie eine
Reihe von Rechtssätzen hervor, die bisher gar nicht existirten,
weder in bewußter, noch unbewußter Weise. Das Gesetz erhebt
sich hier also zu einem wahrhaft selbständigen und produktiven
Leben, es ist die höchste Blüthe desselben, der Triumph der
Selbständigkeitsidee. Allerdings greift mitunter das gebieteri-
sche Bedürfniß des Lebens in den dialektischen Selbstentfaltungs-
prozeß des Rechts ein, die "utilitas" lehnt sich gegen die "ratio
juris"
auf, allein nichts desto weniger läßt sich doch von einer
produktiven Kraft des Rechts selbst sprechen, von Rechtssätzen,
die nicht auf dem Boden der realen Welt, sondern auf dem der
idealen Welt des geschriebenen Rechts gewachsen sind. So zieht
sich ein Theil der produktiven Kraft von der realen Welt in die
ideale zurück, und die Rechtsgeschichte arbeitet nicht weniger auf
dem Papier, als auf der Bühne des Lebens. Nach dieser Seite
hin öffnet sich jener Abweg, den wir oben als die Ueberspan-
nung des Selbständigkeitstriebes des Rechts bezeichnet haben,
und der darin besteht, daß die logische Selbstbestimmungskraft
des Rechts sich auf Kosten des praktischen Bedürfnisses geltend
macht.

Wie sehr das Gesetz durch das innere Wachsthum, von dem
bisher die Rede war, auch an äußerer Festigkeit gewinnt, liegt
auf der Hand. Denn jenes Wachsthum hat nicht bloß zur Folge,

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I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27.
wir ſtarr und unbeweglich, aber wenn die Zeit kommt und die
rechten Vorausſetzungen vorhanden ſind, werden die Buchſtaben
lebendig, im Geſetze regt es ſich wie im Samenkorn, aus dem
Samenkorn wird eine Pflanze und oft ein ſtattlicher Baum.
Die dürren Buchſtaben werden zu Begriffen, die Begriffe zeugen
neue Rechtsſätze (B. 1 S. 29) und ſo wird die Aufzeichnung
des Rechts, die daſſelbe ſcheinbar der Bewegung
beraubt, in der That ein Mittel, um ein reiche-
res Leben in demſelben zu erwecken
. Man darf die
Sache nicht ſo anſehen, als ob dieſe Entwicklung nichts Neues
zu Tage förderte, weil ſie nur eine Entfaltung des in das Geſetz
hineingelegten Inhalts ſei. Denn in Wirklichkeit bringt ſie eine
Reihe von Rechtsſätzen hervor, die bisher gar nicht exiſtirten,
weder in bewußter, noch unbewußter Weiſe. Das Geſetz erhebt
ſich hier alſo zu einem wahrhaft ſelbſtändigen und produktiven
Leben, es iſt die höchſte Blüthe deſſelben, der Triumph der
Selbſtändigkeitsidee. Allerdings greift mitunter das gebieteri-
ſche Bedürfniß des Lebens in den dialektiſchen Selbſtentfaltungs-
prozeß des Rechts ein, die „utilitas“ lehnt ſich gegen die „ratio
juris“
auf, allein nichts deſto weniger läßt ſich doch von einer
produktiven Kraft des Rechts ſelbſt ſprechen, von Rechtsſätzen,
die nicht auf dem Boden der realen Welt, ſondern auf dem der
idealen Welt des geſchriebenen Rechts gewachſen ſind. So zieht
ſich ein Theil der produktiven Kraft von der realen Welt in die
ideale zurück, und die Rechtsgeſchichte arbeitet nicht weniger auf
dem Papier, als auf der Bühne des Lebens. Nach dieſer Seite
hin öffnet ſich jener Abweg, den wir oben als die Ueberſpan-
nung des Selbſtändigkeitstriebes des Rechts bezeichnet haben,
und der darin beſteht, daß die logiſche Selbſtbeſtimmungskraft
des Rechts ſich auf Koſten des praktiſchen Bedürfniſſes geltend
macht.

Wie ſehr das Geſetz durch das innere Wachsthum, von dem
bisher die Rede war, auch an äußerer Feſtigkeit gewinnt, liegt
auf der Hand. Denn jenes Wachsthum hat nicht bloß zur Folge,

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[67/0081] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 3. Selbſterhaltungstrieb des Rechts. §. 27. wir ſtarr und unbeweglich, aber wenn die Zeit kommt und die rechten Vorausſetzungen vorhanden ſind, werden die Buchſtaben lebendig, im Geſetze regt es ſich wie im Samenkorn, aus dem Samenkorn wird eine Pflanze und oft ein ſtattlicher Baum. Die dürren Buchſtaben werden zu Begriffen, die Begriffe zeugen neue Rechtsſätze (B. 1 S. 29) und ſo wird die Aufzeichnung des Rechts, die daſſelbe ſcheinbar der Bewegung beraubt, in der That ein Mittel, um ein reiche- res Leben in demſelben zu erwecken. Man darf die Sache nicht ſo anſehen, als ob dieſe Entwicklung nichts Neues zu Tage förderte, weil ſie nur eine Entfaltung des in das Geſetz hineingelegten Inhalts ſei. Denn in Wirklichkeit bringt ſie eine Reihe von Rechtsſätzen hervor, die bisher gar nicht exiſtirten, weder in bewußter, noch unbewußter Weiſe. Das Geſetz erhebt ſich hier alſo zu einem wahrhaft ſelbſtändigen und produktiven Leben, es iſt die höchſte Blüthe deſſelben, der Triumph der Selbſtändigkeitsidee. Allerdings greift mitunter das gebieteri- ſche Bedürfniß des Lebens in den dialektiſchen Selbſtentfaltungs- prozeß des Rechts ein, die „utilitas“ lehnt ſich gegen die „ratio juris“ auf, allein nichts deſto weniger läßt ſich doch von einer produktiven Kraft des Rechts ſelbſt ſprechen, von Rechtsſätzen, die nicht auf dem Boden der realen Welt, ſondern auf dem der idealen Welt des geſchriebenen Rechts gewachſen ſind. So zieht ſich ein Theil der produktiven Kraft von der realen Welt in die ideale zurück, und die Rechtsgeſchichte arbeitet nicht weniger auf dem Papier, als auf der Bühne des Lebens. Nach dieſer Seite hin öffnet ſich jener Abweg, den wir oben als die Ueberſpan- nung des Selbſtändigkeitstriebes des Rechts bezeichnet haben, und der darin beſteht, daß die logiſche Selbſtbeſtimmungskraft des Rechts ſich auf Koſten des praktiſchen Bedürfniſſes geltend macht. Wie ſehr das Geſetz durch das innere Wachsthum, von dem bisher die Rede war, auch an äußerer Feſtigkeit gewinnt, liegt auf der Hand. Denn jenes Wachsthum hat nicht bloß zur Folge, 5*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/81>, abgerufen am 21.11.2024.