Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe. einzelnen Fall letzteres selbst zu einem objektiven, abstracten Da-sein zu erheben; ward es ihnen möglich, den Strom des Ver- kehrslebens in bestimmte und feste Bahnen zu lenken, den Lauf desselben zu überwachen und nöthigenfalls in geeigneter Weise zu reguliren. In dem Rechtsleben herrschte gewiß eine nicht ge- ringere Disciplin, als im Lager; dem Sinn der alten Zeit für strenge und feste Ordnung mochte sie dort nicht weniger nöthig erscheinen, als hier. Fiel nun der Jurisprudenz nach der einen Seite die Aufgabe 60) Wie das in höherm oder geringerm Grade die Jurisprudenz einer jeden Zeit thut. Das Recht der Wissenschaft vertritt die Seite der Flüssigkeit und Beweglichkeit des Rechts, und Gesetzgeber, die durch das Verbot wissen- schaftlicher Verarbeitung des Rechts die Sicherheit desselben zu befestigen ver- meinten, haben nicht bedacht, daß der Verkehr selbst, dem sie damit dienen wollten, am meisten unter der Durchführung dieses Verbots, wenn sie mög- lich wäre, gelitten haben würde. 61) Ich erinnere z. B. an die Einschränkung des agnatischen Erbrechts
der Weiber auf den Grad der consanguineae Gaj. III. §. 14, 23. Ulpian XXVI. 6. Paul. sent. rec. IV. 8. §. 22: ... idque jure civili vo- coniana ratione videtur effectum; ceterum lex XII tabularum nulla discretione sexus cognatos admittit. S. auch L. 120 de V. S. (50. 16) Verbis legis XII tabularum ....... latissima potestas tributa videtur ... sed id interpretatione coangustatum est vel legum vel auctori- tate jura constituentium. Wegen dieser ihrer nicht weniger produk- tiven als interpretativen Thätigkeit verdienen denn die Veteres, wie sie ge- Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. einzelnen Fall letzteres ſelbſt zu einem objektiven, abſtracten Da-ſein zu erheben; ward es ihnen möglich, den Strom des Ver- kehrslebens in beſtimmte und feſte Bahnen zu lenken, den Lauf deſſelben zu überwachen und nöthigenfalls in geeigneter Weiſe zu reguliren. In dem Rechtsleben herrſchte gewiß eine nicht ge- ringere Disciplin, als im Lager; dem Sinn der alten Zeit für ſtrenge und feſte Ordnung mochte ſie dort nicht weniger nöthig erſcheinen, als hier. Fiel nun der Jurisprudenz nach der einen Seite die Aufgabe 60) Wie das in höherm oder geringerm Grade die Jurisprudenz einer jeden Zeit thut. Das Recht der Wiſſenſchaft vertritt die Seite der Flüſſigkeit und Beweglichkeit des Rechts, und Geſetzgeber, die durch das Verbot wiſſen- ſchaftlicher Verarbeitung des Rechts die Sicherheit deſſelben zu befeſtigen ver- meinten, haben nicht bedacht, daß der Verkehr ſelbſt, dem ſie damit dienen wollten, am meiſten unter der Durchführung dieſes Verbots, wenn ſie mög- lich wäre, gelitten haben würde. 61) Ich erinnere z. B. an die Einſchränkung des agnatiſchen Erbrechts
der Weiber auf den Grad der consanguineae Gaj. III. §. 14, 23. Ulpian XXVI. 6. Paul. sent. rec. IV. 8. §. 22: … idque jure civili vo- coniana ratione videtur effectum; ceterum lex XII tabularum nulla discretione sexus cognatos admittit. S. auch L. 120 de V. S. (50. 16) Verbis legis XII tabularum ....... latissima potestas tributa videtur … sed id interpretatione coangustatum est vel legum vel auctori- tate jura constituentium. Wegen dieſer ihrer nicht weniger produk- tiven als interpretativen Thätigkeit verdienen denn die Veteres, wie ſie ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0084" n="70"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe.</fw><lb/> einzelnen Fall letzteres ſelbſt zu einem objektiven, abſtracten Da-<lb/> ſein zu erheben; ward es ihnen möglich, den Strom des Ver-<lb/> kehrslebens in beſtimmte und feſte Bahnen zu lenken, den Lauf<lb/> deſſelben zu überwachen und nöthigenfalls in geeigneter Weiſe<lb/> zu reguliren. In dem Rechtsleben herrſchte gewiß eine nicht ge-<lb/> ringere Disciplin, als im Lager; dem Sinn der alten Zeit für<lb/> ſtrenge und feſte Ordnung mochte ſie dort nicht weniger nöthig<lb/> erſcheinen, als hier.</p><lb/> <p>Fiel nun der Jurisprudenz nach der einen Seite die Aufgabe<lb/> zu, in höchſt geeigneter, naturgemäßer Weiſe dieſe Disciplin zu<lb/> üben und Wächterin des Geſetzes zu ſein, ſo vertritt ſie anderer-<lb/> ſeits auch das Prinzip des Fortſchritts und der freien Bewegung<lb/> des Rechts.<note place="foot" n="60)">Wie das in höherm oder geringerm Grade die Jurisprudenz einer<lb/> jeden Zeit thut. Das Recht der Wiſſenſchaft vertritt die Seite der Flüſſigkeit<lb/> und Beweglichkeit des Rechts, und Geſetzgeber, die durch das Verbot wiſſen-<lb/> ſchaftlicher Verarbeitung des Rechts die Sicherheit deſſelben zu befeſtigen ver-<lb/> meinten, haben nicht bedacht, daß der Verkehr ſelbſt, dem ſie damit dienen<lb/> wollten, am meiſten unter der Durchführung dieſes Verbots, wenn ſie mög-<lb/> lich wäre, gelitten haben würde.</note> Das neue Recht, das in ihr zum Bewußtſein<lb/> und durch ſie zur Anwendung kam, war, wenn auch angelehnt<lb/> an die Zwölf Tafeln, doch kein unmittelbares Produkt einer eiſer-<lb/> nen logiſchen Nothwendigkeit, wie es eine jede Zeit unter an-<lb/> dern Verhältniſſen gleichfalls hätte gewinnen müſſen; ſondern<lb/> das Bedürfniß des römiſchen Lebens leitete offenbar Sinn und<lb/> Auge des Interpreten,<note xml:id="seg2pn_7_1" next="#seg2pn_7_2" place="foot" n="61)">Ich erinnere z. B. an die Einſchränkung des agnatiſchen Erbrechts<lb/> der Weiber auf den Grad der <hi rendition="#aq">consanguineae Gaj. III. §. 14, 23. Ulpian<lb/> XXVI. 6. Paul. sent. rec. IV. 8. §. 22: … idque <hi rendition="#g">jure civili</hi> vo-<lb/> coniana ratione videtur effectum; ceterum lex XII tabularum nulla<lb/> discretione sexus cognatos admittit</hi>. S. auch <hi rendition="#aq">L. 120 de V. S. (50. 16)<lb/> Verbis legis XII tabularum ....... latissima potestas tributa videtur<lb/> … sed id interpretatione coangustatum est vel legum vel <hi rendition="#g">auctori-<lb/> tate jura constituentium</hi></hi>. Wegen dieſer ihrer nicht weniger produk-<lb/> tiven als interpretativen Thätigkeit verdienen denn die <hi rendition="#aq">Veteres,</hi> wie ſie ge-</note> und mancher Rechtsſatz mag ſich auf<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [70/0084]
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
einzelnen Fall letzteres ſelbſt zu einem objektiven, abſtracten Da-
ſein zu erheben; ward es ihnen möglich, den Strom des Ver-
kehrslebens in beſtimmte und feſte Bahnen zu lenken, den Lauf
deſſelben zu überwachen und nöthigenfalls in geeigneter Weiſe
zu reguliren. In dem Rechtsleben herrſchte gewiß eine nicht ge-
ringere Disciplin, als im Lager; dem Sinn der alten Zeit für
ſtrenge und feſte Ordnung mochte ſie dort nicht weniger nöthig
erſcheinen, als hier.
Fiel nun der Jurisprudenz nach der einen Seite die Aufgabe
zu, in höchſt geeigneter, naturgemäßer Weiſe dieſe Disciplin zu
üben und Wächterin des Geſetzes zu ſein, ſo vertritt ſie anderer-
ſeits auch das Prinzip des Fortſchritts und der freien Bewegung
des Rechts. 60) Das neue Recht, das in ihr zum Bewußtſein
und durch ſie zur Anwendung kam, war, wenn auch angelehnt
an die Zwölf Tafeln, doch kein unmittelbares Produkt einer eiſer-
nen logiſchen Nothwendigkeit, wie es eine jede Zeit unter an-
dern Verhältniſſen gleichfalls hätte gewinnen müſſen; ſondern
das Bedürfniß des römiſchen Lebens leitete offenbar Sinn und
Auge des Interpreten, 61) und mancher Rechtsſatz mag ſich auf
60) Wie das in höherm oder geringerm Grade die Jurisprudenz einer
jeden Zeit thut. Das Recht der Wiſſenſchaft vertritt die Seite der Flüſſigkeit
und Beweglichkeit des Rechts, und Geſetzgeber, die durch das Verbot wiſſen-
ſchaftlicher Verarbeitung des Rechts die Sicherheit deſſelben zu befeſtigen ver-
meinten, haben nicht bedacht, daß der Verkehr ſelbſt, dem ſie damit dienen
wollten, am meiſten unter der Durchführung dieſes Verbots, wenn ſie mög-
lich wäre, gelitten haben würde.
61) Ich erinnere z. B. an die Einſchränkung des agnatiſchen Erbrechts
der Weiber auf den Grad der consanguineae Gaj. III. §. 14, 23. Ulpian
XXVI. 6. Paul. sent. rec. IV. 8. §. 22: … idque jure civili vo-
coniana ratione videtur effectum; ceterum lex XII tabularum nulla
discretione sexus cognatos admittit. S. auch L. 120 de V. S. (50. 16)
Verbis legis XII tabularum ....... latissima potestas tributa videtur
… sed id interpretatione coangustatum est vel legum vel auctori-
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