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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
erste Art der Thätigkeit belegt. Nur sie construirt, nur sie baut,
die andere baut nur fort, jene ist eine künstlerische Production,
ein Erfinden,514) letztere hingegen nur ein consequentes logisches
Denken, ein Untersuchen, Forschen.

Wir unterziehen die juristische Construction jetzt einer nähern
Betrachtung und zwar erörtern wir zunächst ihre Gesetze.

Die Construction bezweckt die kunstgerechte Gestaltung des
juristischen Körpers. Worin besteht nun das Kunstgerechte
d. h. welche Rücksichten, Regeln hat sie dabei zu beobachten,
kurz was sind ihre Gesetze? Ich nehme folgende an.

1. Das Gesetz der Deckung des positiven Stoffs.
Die positiven Rechtssätze sind die gegebenen Punkte, bei denen
die juristische Construction, wie immerhin sie dieselben auch ver-
binden möge, unter allen Umständen anlangen muß. Während

514) Damit ist zugleich ausgesprochen, daß sie weniger Sache des Flei-
ßes und der Gelehrsamkeit, als des Talents und der Intuition ist. Nirgends
verwerthet sich die Arbeit so gut und so schlecht je nach dem Erfolg, den sie
hat, als hier. Eine gelungene Construction ist in meinen Augen eine juri-
stische That, eine Leistung von bleibendem Werth, eine mißlungene ist abso-
lut werthlos, die Arbeit völlig verloren. Niemand, der sich an eine solche
Aufgabe wagt, sollte sich verhehlen, daß er Lotterie spielt; auf Einen Treffer
fallen hier, wie die Erfahrung lehrt, hundert Nieten. Die Schwierigkeit und
das Verdienstliche derartiger Leistungen wird im allgemeinen viel zu wenig
anerkannt. Es beruht dies vielleicht darauf, daß, während der eigentlich
gelehrten Arbeit stets der Schweiß anklebt, man einer derartigen Leistung von
all der Mühe und Anstrengung, die ihr vorhergegangen, nichts ansieht und
daher nur zu leicht geneigt ist in dem, was die Frucht langjährigen Suchens
war, das mühelose Geschenk einer glücklichen Stunde zu erblicken. Ein ein-
ziges Wort kann hier oft die Lösung geben, und wenn das Wort ausgespro-
chen, erscheint die Sache so natürlich und einfach, daß Jeder es hätte finden
können. Man wird unwillkührlich an die Lösung eines Räthsels erinnert, das
bekanntlich ebenfalls ganz anders aussieht, je nachdem man die Lösung kennt
oder erst sucht. Daß unsere civilistischen Räthsel nicht so leicht zu rathen sind,
kann man schon daraus entnehmen, daß unsere heutige Jurisprudenz, na-
mentlich die germanistische, sich noch mit einer großen Zahl trägt, für die der
Oedip noch erst erwartet wird!

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
erſte Art der Thätigkeit belegt. Nur ſie conſtruirt, nur ſie baut,
die andere baut nur fort, jene iſt eine künſtleriſche Production,
ein Erfinden,514) letztere hingegen nur ein conſequentes logiſches
Denken, ein Unterſuchen, Forſchen.

Wir unterziehen die juriſtiſche Conſtruction jetzt einer nähern
Betrachtung und zwar erörtern wir zunächſt ihre Geſetze.

Die Conſtruction bezweckt die kunſtgerechte Geſtaltung des
juriſtiſchen Körpers. Worin beſteht nun das Kunſtgerechte
d. h. welche Rückſichten, Regeln hat ſie dabei zu beobachten,
kurz was ſind ihre Geſetze? Ich nehme folgende an.

1. Das Geſetz der Deckung des poſitiven Stoffs.
Die poſitiven Rechtsſätze ſind die gegebenen Punkte, bei denen
die juriſtiſche Conſtruction, wie immerhin ſie dieſelben auch ver-
binden möge, unter allen Umſtänden anlangen muß. Während

514) Damit iſt zugleich ausgeſprochen, daß ſie weniger Sache des Flei-
ßes und der Gelehrſamkeit, als des Talents und der Intuition iſt. Nirgends
verwerthet ſich die Arbeit ſo gut und ſo ſchlecht je nach dem Erfolg, den ſie
hat, als hier. Eine gelungene Conſtruction iſt in meinen Augen eine juri-
ſtiſche That, eine Leiſtung von bleibendem Werth, eine mißlungene iſt abſo-
lut werthlos, die Arbeit völlig verloren. Niemand, der ſich an eine ſolche
Aufgabe wagt, ſollte ſich verhehlen, daß er Lotterie ſpielt; auf Einen Treffer
fallen hier, wie die Erfahrung lehrt, hundert Nieten. Die Schwierigkeit und
das Verdienſtliche derartiger Leiſtungen wird im allgemeinen viel zu wenig
anerkannt. Es beruht dies vielleicht darauf, daß, während der eigentlich
gelehrten Arbeit ſtets der Schweiß anklebt, man einer derartigen Leiſtung von
all der Mühe und Anſtrengung, die ihr vorhergegangen, nichts anſieht und
daher nur zu leicht geneigt iſt in dem, was die Frucht langjährigen Suchens
war, das müheloſe Geſchenk einer glücklichen Stunde zu erblicken. Ein ein-
ziges Wort kann hier oft die Löſung geben, und wenn das Wort ausgeſpro-
chen, erſcheint die Sache ſo natürlich und einfach, daß Jeder es hätte finden
können. Man wird unwillkührlich an die Löſung eines Räthſels erinnert, das
bekanntlich ebenfalls ganz anders ausſieht, je nachdem man die Löſung kennt
oder erſt ſucht. Daß unſere civiliſtiſchen Räthſel nicht ſo leicht zu rathen ſind,
kann man ſchon daraus entnehmen, daß unſere heutige Jurisprudenz, na-
mentlich die germaniſtiſche, ſich noch mit einer großen Zahl trägt, für die der
Oedip noch erſt erwartet wird!
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[398/0104] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. erſte Art der Thätigkeit belegt. Nur ſie conſtruirt, nur ſie baut, die andere baut nur fort, jene iſt eine künſtleriſche Production, ein Erfinden, 514) letztere hingegen nur ein conſequentes logiſches Denken, ein Unterſuchen, Forſchen. Wir unterziehen die juriſtiſche Conſtruction jetzt einer nähern Betrachtung und zwar erörtern wir zunächſt ihre Geſetze. Die Conſtruction bezweckt die kunſtgerechte Geſtaltung des juriſtiſchen Körpers. Worin beſteht nun das Kunſtgerechte d. h. welche Rückſichten, Regeln hat ſie dabei zu beobachten, kurz was ſind ihre Geſetze? Ich nehme folgende an. 1. Das Geſetz der Deckung des poſitiven Stoffs. Die poſitiven Rechtsſätze ſind die gegebenen Punkte, bei denen die juriſtiſche Conſtruction, wie immerhin ſie dieſelben auch ver- binden möge, unter allen Umſtänden anlangen muß. Während 514) Damit iſt zugleich ausgeſprochen, daß ſie weniger Sache des Flei- ßes und der Gelehrſamkeit, als des Talents und der Intuition iſt. Nirgends verwerthet ſich die Arbeit ſo gut und ſo ſchlecht je nach dem Erfolg, den ſie hat, als hier. Eine gelungene Conſtruction iſt in meinen Augen eine juri- ſtiſche That, eine Leiſtung von bleibendem Werth, eine mißlungene iſt abſo- lut werthlos, die Arbeit völlig verloren. Niemand, der ſich an eine ſolche Aufgabe wagt, ſollte ſich verhehlen, daß er Lotterie ſpielt; auf Einen Treffer fallen hier, wie die Erfahrung lehrt, hundert Nieten. Die Schwierigkeit und das Verdienſtliche derartiger Leiſtungen wird im allgemeinen viel zu wenig anerkannt. Es beruht dies vielleicht darauf, daß, während der eigentlich gelehrten Arbeit ſtets der Schweiß anklebt, man einer derartigen Leiſtung von all der Mühe und Anſtrengung, die ihr vorhergegangen, nichts anſieht und daher nur zu leicht geneigt iſt in dem, was die Frucht langjährigen Suchens war, das müheloſe Geſchenk einer glücklichen Stunde zu erblicken. Ein ein- ziges Wort kann hier oft die Löſung geben, und wenn das Wort ausgeſpro- chen, erſcheint die Sache ſo natürlich und einfach, daß Jeder es hätte finden können. Man wird unwillkührlich an die Löſung eines Räthſels erinnert, das bekanntlich ebenfalls ganz anders ausſieht, je nachdem man die Löſung kennt oder erſt ſucht. Daß unſere civiliſtiſchen Räthſel nicht ſo leicht zu rathen ſind, kann man ſchon daraus entnehmen, daß unſere heutige Jurisprudenz, na- mentlich die germaniſtiſche, ſich noch mit einer großen Zahl trägt, für die der Oedip noch erſt erwartet wird!

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/104>, abgerufen am 24.11.2024.