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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
ihr hier die Gränzmarken ihres Reichs, nicht die unmittelbar
praktischen Fragen die Pfade, die sie zu wandeln hat. Frei und
ungehindert, wie in der Philosophie, kann der Gedanke hier
schweifen und forschen und dennoch zugleich sicher gegen die
Gefahr sich zu verlieren, die ihm dort so leicht droht. Denn die
praktische Natur der Welt, in die er sich versetzt findet, lenkt
ihn immer wieder zu den realen Dingen zurück. Aber daß er,
indem er zurückkehrt, sich gestehen darf, nicht einem bloß subjec-
tiven Erkenntnißdrange genügt zu haben, nicht die bloße Erin-
nerung an einen hohen geistigen Genuß, sondern etwas für die
Welt und Menschheit Werthvolles mit zurückzubringen, daß die
Gedanken, die er gefunden, keine bloßen Gedanken bleiben, son-
dern praktische Gewalten werden -- eben das gibt all unserm
Philosophiren und Construiren in der Dogmatik erst seinen
wahren Werth.

Bringen wir diese Auffassung der Jurisprudenz, diese
Anschauung des Rechts mit, dann glaube ich wird es uns nicht
Wunder nehmen, daß diese Wissenschaft mehr als ein halbes
Jahrtausend in Rom die äußerste Anziehungskraft ausüben und
den Rang der ersten Wissenschaft einnehmen konnte. Sie
gewährte dem römischen Geist, so zu sagen, die Arena einer dia-
lektischen Gymnastik. Sie erklärt uns zugleich, daß und warum
die Römer keine Philosophie hatten, denn alles, was an philo-
sophischem Trieb und Talent in ihnen war, hat in ihr seine
Befriedigung und seinen Auslaß gefunden. Und so wird es sich
rechtfertigen, wenn wir, indem wir uns ihr jetzt zuwenden, sie
von vornherein charakterisiren als: das durch die praktische
Richtung des Römervolkes bestimmte geistige Ge-
biet, an dem ihre Philosophie zum Durchbruch kam
,
oder kurz weg als die national-römische Philosophie.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
ihr hier die Gränzmarken ihres Reichs, nicht die unmittelbar
praktiſchen Fragen die Pfade, die ſie zu wandeln hat. Frei und
ungehindert, wie in der Philoſophie, kann der Gedanke hier
ſchweifen und forſchen und dennoch zugleich ſicher gegen die
Gefahr ſich zu verlieren, die ihm dort ſo leicht droht. Denn die
praktiſche Natur der Welt, in die er ſich verſetzt findet, lenkt
ihn immer wieder zu den realen Dingen zurück. Aber daß er,
indem er zurückkehrt, ſich geſtehen darf, nicht einem bloß ſubjec-
tiven Erkenntnißdrange genügt zu haben, nicht die bloße Erin-
nerung an einen hohen geiſtigen Genuß, ſondern etwas für die
Welt und Menſchheit Werthvolles mit zurückzubringen, daß die
Gedanken, die er gefunden, keine bloßen Gedanken bleiben, ſon-
dern praktiſche Gewalten werden — eben das gibt all unſerm
Philoſophiren und Conſtruiren in der Dogmatik erſt ſeinen
wahren Werth.

Bringen wir dieſe Auffaſſung der Jurisprudenz, dieſe
Anſchauung des Rechts mit, dann glaube ich wird es uns nicht
Wunder nehmen, daß dieſe Wiſſenſchaft mehr als ein halbes
Jahrtauſend in Rom die äußerſte Anziehungskraft ausüben und
den Rang der erſten Wiſſenſchaft einnehmen konnte. Sie
gewährte dem römiſchen Geiſt, ſo zu ſagen, die Arena einer dia-
lektiſchen Gymnaſtik. Sie erklärt uns zugleich, daß und warum
die Römer keine Philoſophie hatten, denn alles, was an philo-
ſophiſchem Trieb und Talent in ihnen war, hat in ihr ſeine
Befriedigung und ſeinen Auslaß gefunden. Und ſo wird es ſich
rechtfertigen, wenn wir, indem wir uns ihr jetzt zuwenden, ſie
von vornherein charakteriſiren als: das durch die praktiſche
Richtung des Römervolkes beſtimmte geiſtige Ge-
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,
oder kurz weg als die national-römiſche Philoſophie.

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[414/0120] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. ihr hier die Gränzmarken ihres Reichs, nicht die unmittelbar praktiſchen Fragen die Pfade, die ſie zu wandeln hat. Frei und ungehindert, wie in der Philoſophie, kann der Gedanke hier ſchweifen und forſchen und dennoch zugleich ſicher gegen die Gefahr ſich zu verlieren, die ihm dort ſo leicht droht. Denn die praktiſche Natur der Welt, in die er ſich verſetzt findet, lenkt ihn immer wieder zu den realen Dingen zurück. Aber daß er, indem er zurückkehrt, ſich geſtehen darf, nicht einem bloß ſubjec- tiven Erkenntnißdrange genügt zu haben, nicht die bloße Erin- nerung an einen hohen geiſtigen Genuß, ſondern etwas für die Welt und Menſchheit Werthvolles mit zurückzubringen, daß die Gedanken, die er gefunden, keine bloßen Gedanken bleiben, ſon- dern praktiſche Gewalten werden — eben das gibt all unſerm Philoſophiren und Conſtruiren in der Dogmatik erſt ſeinen wahren Werth. Bringen wir dieſe Auffaſſung der Jurisprudenz, dieſe Anſchauung des Rechts mit, dann glaube ich wird es uns nicht Wunder nehmen, daß dieſe Wiſſenſchaft mehr als ein halbes Jahrtauſend in Rom die äußerſte Anziehungskraft ausüben und den Rang der erſten Wiſſenſchaft einnehmen konnte. Sie gewährte dem römiſchen Geiſt, ſo zu ſagen, die Arena einer dia- lektiſchen Gymnaſtik. Sie erklärt uns zugleich, daß und warum die Römer keine Philoſophie hatten, denn alles, was an philo- ſophiſchem Trieb und Talent in ihnen war, hat in ihr ſeine Befriedigung und ſeinen Auslaß gefunden. Und ſo wird es ſich rechtfertigen, wenn wir, indem wir uns ihr jetzt zuwenden, ſie von vornherein charakteriſiren als: das durch die praktiſche Richtung des Römervolkes beſtimmte geiſtige Ge- biet, an dem ihre Philoſophie zum Durchbruch kam, oder kurz weg als die national-römiſche Philoſophie.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/120>, abgerufen am 18.12.2024.