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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Die Jurisprudenz. §. 42.
einbrachte, jedenfalls aber ein wenn auch unverschuldeter, so
doch höchst drückender Uebelstand. Ihren Nachfolgern fiel es
nicht schwer, demselben abzuhelfen. Seitdem die Jurisprudenz
eine freie Kunst geworden, fehlte es ihr weder an Jüngern,
noch letzteren an Muße, um allen Wünschen des Volks in
dieser Beziehung nach zu kommen. Die Jurisprudenz ward und
blieb Jahrhunderte lang eine Lieblingsbeschäftigung der höhe-
ren Stände -- eine noble Passion, 563) ein Ersatz für eine ver-
sagte oder verschmähte, ein würdiger Rückzug für eine unter-
brochene oder beendete politische Thätigkeit. 564) Was man in
ihr suchte und an ihr schätzte, war nicht bloß die wissenschaft-
liche Befriedigung, die das Studium als solches gewährte,
Zerstreuung, Unterhaltung, Anregung, kurz der Genuß einer
geistigen Gymnastik, sondern die Gelegenheit, sich auch ohne
Staatsamt nützlich zu machen, ins Leben einzugreifen, Ansehn
und Einfluß zu gewinnen. Ein Sich Vertiefen in die Wissen-
schaft bloß ihrer selbst wegen war dem gesunden Sinn der Rö-
mer fremd; die Wissenschaft, die sie locken sollte, mußte nicht
bloß dem Subject, sondern der Welt zu gute kommen. Gerade
darauf beruhte die hohe Anziehungskraft der Jurisprudenz, daß
sie nicht bloß dem wissenschaftlichen Bedürfniß, sondern auch
dem Triebe nach praktischer Thätigkeit volle Befriedigung ver-
sprach. Sie war gewissermaßen der Abzugskanal für die im
Staatsdienst nicht verwendbare, überschüssige praktische Kraft.

So kam die Jurisprudenz schon ihrer selbst wegen dem Le-
ben mit größter Bereitwilligkeit entgegen. Ja mehr, als das.
Sie trieb ihren Diensteifer so weit, daß man sagen möchte, die
Jurisprudenz habe mehr das Leben, als das Leben sie gesucht,

563) S. den Ausspruch des Q. Mucius in L. 2 §. 43 de orig. jur.
(1. 2) turpe esse patricio et nobili et causas oranti jus in quo versare-
tur, ignorare.
564) Cic. de orat. I, 60 senectutem a solitudine vindicari juris
civilis scientia.
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Die Jurisprudenz. §. 42.
einbrachte, jedenfalls aber ein wenn auch unverſchuldeter, ſo
doch höchſt drückender Uebelſtand. Ihren Nachfolgern fiel es
nicht ſchwer, demſelben abzuhelfen. Seitdem die Jurisprudenz
eine freie Kunſt geworden, fehlte es ihr weder an Jüngern,
noch letzteren an Muße, um allen Wünſchen des Volks in
dieſer Beziehung nach zu kommen. Die Jurisprudenz ward und
blieb Jahrhunderte lang eine Lieblingsbeſchäftigung der höhe-
ren Stände — eine noble Paſſion, 563) ein Erſatz für eine ver-
ſagte oder verſchmähte, ein würdiger Rückzug für eine unter-
brochene oder beendete politiſche Thätigkeit. 564) Was man in
ihr ſuchte und an ihr ſchätzte, war nicht bloß die wiſſenſchaft-
liche Befriedigung, die das Studium als ſolches gewährte,
Zerſtreuung, Unterhaltung, Anregung, kurz der Genuß einer
geiſtigen Gymnaſtik, ſondern die Gelegenheit, ſich auch ohne
Staatsamt nützlich zu machen, ins Leben einzugreifen, Anſehn
und Einfluß zu gewinnen. Ein Sich Vertiefen in die Wiſſen-
ſchaft bloß ihrer ſelbſt wegen war dem geſunden Sinn der Rö-
mer fremd; die Wiſſenſchaft, die ſie locken ſollte, mußte nicht
bloß dem Subject, ſondern der Welt zu gute kommen. Gerade
darauf beruhte die hohe Anziehungskraft der Jurisprudenz, daß
ſie nicht bloß dem wiſſenſchaftlichen Bedürfniß, ſondern auch
dem Triebe nach praktiſcher Thätigkeit volle Befriedigung ver-
ſprach. Sie war gewiſſermaßen der Abzugskanal für die im
Staatsdienſt nicht verwendbare, überſchüſſige praktiſche Kraft.

So kam die Jurisprudenz ſchon ihrer ſelbſt wegen dem Le-
ben mit größter Bereitwilligkeit entgegen. Ja mehr, als das.
Sie trieb ihren Dienſteifer ſo weit, daß man ſagen möchte, die
Jurisprudenz habe mehr das Leben, als das Leben ſie geſucht,

563) S. den Ausſpruch des Q. Mucius in L. 2 §. 43 de orig. jur.
(1. 2) turpe esse patricio et nobili et causas oranti jus in quo versare-
tur, ignorare.
564) Cic. de orat. I, 60 senectutem a solitudine vindicari juris
civilis scientia.
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[435/0141] Die Jurisprudenz. §. 42. einbrachte, jedenfalls aber ein wenn auch unverſchuldeter, ſo doch höchſt drückender Uebelſtand. Ihren Nachfolgern fiel es nicht ſchwer, demſelben abzuhelfen. Seitdem die Jurisprudenz eine freie Kunſt geworden, fehlte es ihr weder an Jüngern, noch letzteren an Muße, um allen Wünſchen des Volks in dieſer Beziehung nach zu kommen. Die Jurisprudenz ward und blieb Jahrhunderte lang eine Lieblingsbeſchäftigung der höhe- ren Stände — eine noble Paſſion, 563) ein Erſatz für eine ver- ſagte oder verſchmähte, ein würdiger Rückzug für eine unter- brochene oder beendete politiſche Thätigkeit. 564) Was man in ihr ſuchte und an ihr ſchätzte, war nicht bloß die wiſſenſchaft- liche Befriedigung, die das Studium als ſolches gewährte, Zerſtreuung, Unterhaltung, Anregung, kurz der Genuß einer geiſtigen Gymnaſtik, ſondern die Gelegenheit, ſich auch ohne Staatsamt nützlich zu machen, ins Leben einzugreifen, Anſehn und Einfluß zu gewinnen. Ein Sich Vertiefen in die Wiſſen- ſchaft bloß ihrer ſelbſt wegen war dem geſunden Sinn der Rö- mer fremd; die Wiſſenſchaft, die ſie locken ſollte, mußte nicht bloß dem Subject, ſondern der Welt zu gute kommen. Gerade darauf beruhte die hohe Anziehungskraft der Jurisprudenz, daß ſie nicht bloß dem wiſſenſchaftlichen Bedürfniß, ſondern auch dem Triebe nach praktiſcher Thätigkeit volle Befriedigung ver- ſprach. Sie war gewiſſermaßen der Abzugskanal für die im Staatsdienſt nicht verwendbare, überſchüſſige praktiſche Kraft. So kam die Jurisprudenz ſchon ihrer ſelbſt wegen dem Le- ben mit größter Bereitwilligkeit entgegen. Ja mehr, als das. Sie trieb ihren Dienſteifer ſo weit, daß man ſagen möchte, die Jurisprudenz habe mehr das Leben, als das Leben ſie geſucht, 563) S. den Ausſpruch des Q. Mucius in L. 2 §. 43 de orig. jur. (1. 2) turpe esse patricio et nobili et causas oranti jus in quo versare- tur, ignorare. 564) Cic. de orat. I, 60 senectutem a solitudine vindicari juris civilis scientia. 28*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/141>, abgerufen am 14.05.2024.