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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. I. Materialismus. §. 43.
der gegenwärtige Paragraph zuwendet, enthält nichts weniger
als ein Product der Jurisprudenz. Aber sie gewährt uns einen
höchst wichtigen Aufschluß über die Rechtsanschauung der ältern
Zeit, sie signalisirt uns den Höhenpunkt ihres Auffassungsver-
mögens, das geistige Niveau der Zeit, das für die Jurispru-
denz maßgebend war. Die nächstfolgenden Paragraphen werden
uns schon mehr in die eigentliche Thätigkeit der Jurisprudenz
hinein führen. Wie eng aber das Juristische und Nichtjuristi-
sche hier zusammenhängt, können gerade sie am besten zeigen;
denn derselbe Gedanke, mit dem wir in diesem Paragraphen be-
ginnen, der der Richtung der alten Zeit auf die Aeußerlichkeit
oder, wie ich es nennen will, das sinnliche Element des
Rechts, wird uns auch dort zur Seite bleiben.

Die Sinnlichkeit ist die Vorstufe der Geistigkeit. Alles ur-
sprüngliche Denken der Individuen und Völker ist ein sinnliches,
der Geist wird nur dadurch frei von der äußern Erscheinung,
daß er eine Zeitlang an ihr gehaftet und an ihr die Vorschule
des abstracten Denkens durchgemacht hat. Diesem Naturgesetz,
das sich auf allen Gebieten des menschlichen Denkens und Wis-
sens bewährt, unterliegt natürlich auch das Recht.

Aber wie, wird man fragen, ist nicht das Wesen des Rechts
damit unverträglich? Denn besteht dasselbe nicht gerade in dem
Sichlosreißen von der concreten, äußern Erscheinung, im Ab-
strahiren? Jeder Begriff, jeder Rechtssatz enthält ja eine Ab-
straction, ein Allgemeines, das von dem Besondern absieht.
Gewiß; allein nichts desto weniger ist auch hier dem Sinnlichen
ein breiter Zugang geöffnet. Zuerst und vor allem nämlich auf
der Erscheinungs- oder Verwirklichungsseite des Rechts
d. h. in den Formen, in denen das Recht im Leben wie vor Ge-
richt zur Anwendung und concreten Wirklichkeit gelangt. In
der Religion entspricht dieser Seite der Cultus, und so wie letz-
terer durch das Ceremonienwesen dem sinnlichen Hange des
Geistes volle Befriedigung gewähren kann, so das Recht durch
das Formenwesen. Nach dieser Seite hin leistet das innere

Haften an der Aeußerlichkeit. I. Materialismus. §. 43.
der gegenwärtige Paragraph zuwendet, enthält nichts weniger
als ein Product der Jurisprudenz. Aber ſie gewährt uns einen
höchſt wichtigen Aufſchluß über die Rechtsanſchauung der ältern
Zeit, ſie ſignaliſirt uns den Höhenpunkt ihres Auffaſſungsver-
mögens, das geiſtige Niveau der Zeit, das für die Jurispru-
denz maßgebend war. Die nächſtfolgenden Paragraphen werden
uns ſchon mehr in die eigentliche Thätigkeit der Jurisprudenz
hinein führen. Wie eng aber das Juriſtiſche und Nichtjuriſti-
ſche hier zuſammenhängt, können gerade ſie am beſten zeigen;
denn derſelbe Gedanke, mit dem wir in dieſem Paragraphen be-
ginnen, der der Richtung der alten Zeit auf die Aeußerlichkeit
oder, wie ich es nennen will, das ſinnliche Element des
Rechts, wird uns auch dort zur Seite bleiben.

Die Sinnlichkeit iſt die Vorſtufe der Geiſtigkeit. Alles ur-
ſprüngliche Denken der Individuen und Völker iſt ein ſinnliches,
der Geiſt wird nur dadurch frei von der äußern Erſcheinung,
daß er eine Zeitlang an ihr gehaftet und an ihr die Vorſchule
des abſtracten Denkens durchgemacht hat. Dieſem Naturgeſetz,
das ſich auf allen Gebieten des menſchlichen Denkens und Wiſ-
ſens bewährt, unterliegt natürlich auch das Recht.

Aber wie, wird man fragen, iſt nicht das Weſen des Rechts
damit unverträglich? Denn beſteht daſſelbe nicht gerade in dem
Sichlosreißen von der concreten, äußern Erſcheinung, im Ab-
ſtrahiren? Jeder Begriff, jeder Rechtsſatz enthält ja eine Ab-
ſtraction, ein Allgemeines, das von dem Beſondern abſieht.
Gewiß; allein nichts deſto weniger iſt auch hier dem Sinnlichen
ein breiter Zugang geöffnet. Zuerſt und vor allem nämlich auf
der Erſcheinungs- oder Verwirklichungsſeite des Rechts
d. h. in den Formen, in denen das Recht im Leben wie vor Ge-
richt zur Anwendung und concreten Wirklichkeit gelangt. In
der Religion entſpricht dieſer Seite der Cultus, und ſo wie letz-
terer durch das Ceremonienweſen dem ſinnlichen Hange des
Geiſtes volle Befriedigung gewähren kann, ſo das Recht durch
das Formenweſen. Nach dieſer Seite hin leiſtet das innere

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[447/0153] Haften an der Aeußerlichkeit. I. Materialismus. §. 43. der gegenwärtige Paragraph zuwendet, enthält nichts weniger als ein Product der Jurisprudenz. Aber ſie gewährt uns einen höchſt wichtigen Aufſchluß über die Rechtsanſchauung der ältern Zeit, ſie ſignaliſirt uns den Höhenpunkt ihres Auffaſſungsver- mögens, das geiſtige Niveau der Zeit, das für die Jurispru- denz maßgebend war. Die nächſtfolgenden Paragraphen werden uns ſchon mehr in die eigentliche Thätigkeit der Jurisprudenz hinein führen. Wie eng aber das Juriſtiſche und Nichtjuriſti- ſche hier zuſammenhängt, können gerade ſie am beſten zeigen; denn derſelbe Gedanke, mit dem wir in dieſem Paragraphen be- ginnen, der der Richtung der alten Zeit auf die Aeußerlichkeit oder, wie ich es nennen will, das ſinnliche Element des Rechts, wird uns auch dort zur Seite bleiben. Die Sinnlichkeit iſt die Vorſtufe der Geiſtigkeit. Alles ur- ſprüngliche Denken der Individuen und Völker iſt ein ſinnliches, der Geiſt wird nur dadurch frei von der äußern Erſcheinung, daß er eine Zeitlang an ihr gehaftet und an ihr die Vorſchule des abſtracten Denkens durchgemacht hat. Dieſem Naturgeſetz, das ſich auf allen Gebieten des menſchlichen Denkens und Wiſ- ſens bewährt, unterliegt natürlich auch das Recht. Aber wie, wird man fragen, iſt nicht das Weſen des Rechts damit unverträglich? Denn beſteht daſſelbe nicht gerade in dem Sichlosreißen von der concreten, äußern Erſcheinung, im Ab- ſtrahiren? Jeder Begriff, jeder Rechtsſatz enthält ja eine Ab- ſtraction, ein Allgemeines, das von dem Beſondern abſieht. Gewiß; allein nichts deſto weniger iſt auch hier dem Sinnlichen ein breiter Zugang geöffnet. Zuerſt und vor allem nämlich auf der Erſcheinungs- oder Verwirklichungsſeite des Rechts d. h. in den Formen, in denen das Recht im Leben wie vor Ge- richt zur Anwendung und concreten Wirklichkeit gelangt. In der Religion entſpricht dieſer Seite der Cultus, und ſo wie letz- terer durch das Ceremonienweſen dem ſinnlichen Hange des Geiſtes volle Befriedigung gewähren kann, ſo das Recht durch das Formenweſen. Nach dieſer Seite hin leiſtet das innere

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/153>, abgerufen am 12.05.2024.