Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
und wahrscheinlich noch bevor die lex Voconia das Beispiel zu
einer Verkürzung des Erbrechts der Weiber gegeben hatte, fan-
den die Juristen subtilitate quadam excogitata, wie Justi-
nian 633) sagt, daß das Zwölftafelngesetz das Intestaterbrecht
der Weiber auf agnatische Schwestern hatte einschränken wollen.
Mit welcher Stirn hätte ein Jurist eine solche Behauptung vor-
bringen dürfen, wenn er sich nicht eben bewußt gewesen, daß er
nicht sowohl das Gesetz auszulegen, als dasselbe den Interessen
und Bedürfnissen der Zeit anzupassen den Beruf habe? Mit
dem Wechsel dieser Bedürfnisse wechselte daher auch die Inter-
pretation. Zu einer gewissen Periode bedurfte es der Usucapion
der Erbschaft, und sie war da, zu einer andern Periode war sie
nicht mehr nöthig, und sie verschwand, oder, wie Gajus sagt, 634)
man hielt es jetzt nicht mehr für möglich, daß Erbschaften usu-
capirt werden könnten! Kurz! das tendentiöse Element
der älteren Interpretation scheint mir ganz unbestreitbar.

Ich bin aber weit entfernt, ihr daraus einen Vorwurf zu
machen, im Gegentheil, glaube ich, darf man es der alten Ju-
risprudenz zum Lobe anrechnen, daß sie, anstatt sich blindlings
dem Gesetz unterzuordnen, dasselbe vielmehr den Bedürfnissen
des Lebens und den Anforderungen der Zeit anzupassen ver-
suchte. Sie läßt sich in dieser Beziehung als Vorgängerin des
Prätors bezeichnen, und was von letzterem, gilt auch von ihr.
Beide haben eine sehr beträchtliche rechtsbildende Thätigkeit aus-
geübt und zwar nicht selten auf Kosten des gesetzlichen
Rechts, während ihr Beruf doch nur darin bestand, die Gesetze
anzuwenden oder die Anwendung zu vermitteln. Aber ge-
rade dieser Beruf gewährte beiden die Gelegenheit, den Werth
oder Unwerth derselben, ihre Mängel, Lücken, ihre ursprüng-
liche oder erst im Lauf der Zeit eingetretene praktische Unange-
messenheit, Unhaltbarkeit, wie kein Anderer, kennen zu lernen,

633) L. 14 C. de legit. her. (6. 58).
634) Gaj. II, 54 .. postea creditum est, ipsas hereditates usucapi
non posse.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
und wahrſcheinlich noch bevor die lex Voconia das Beiſpiel zu
einer Verkürzung des Erbrechts der Weiber gegeben hatte, fan-
den die Juriſten subtilitate quadam excogitata, wie Juſti-
nian 633) ſagt, daß das Zwölftafelngeſetz das Inteſtaterbrecht
der Weiber auf agnatiſche Schweſtern hatte einſchränken wollen.
Mit welcher Stirn hätte ein Juriſt eine ſolche Behauptung vor-
bringen dürfen, wenn er ſich nicht eben bewußt geweſen, daß er
nicht ſowohl das Geſetz auszulegen, als daſſelbe den Intereſſen
und Bedürfniſſen der Zeit anzupaſſen den Beruf habe? Mit
dem Wechſel dieſer Bedürfniſſe wechſelte daher auch die Inter-
pretation. Zu einer gewiſſen Periode bedurfte es der Uſucapion
der Erbſchaft, und ſie war da, zu einer andern Periode war ſie
nicht mehr nöthig, und ſie verſchwand, oder, wie Gajus ſagt, 634)
man hielt es jetzt nicht mehr für möglich, daß Erbſchaften uſu-
capirt werden könnten! Kurz! das tendentiöſe Element
der älteren Interpretation ſcheint mir ganz unbeſtreitbar.

Ich bin aber weit entfernt, ihr daraus einen Vorwurf zu
machen, im Gegentheil, glaube ich, darf man es der alten Ju-
risprudenz zum Lobe anrechnen, daß ſie, anſtatt ſich blindlings
dem Geſetz unterzuordnen, daſſelbe vielmehr den Bedürfniſſen
des Lebens und den Anforderungen der Zeit anzupaſſen ver-
ſuchte. Sie läßt ſich in dieſer Beziehung als Vorgängerin des
Prätors bezeichnen, und was von letzterem, gilt auch von ihr.
Beide haben eine ſehr beträchtliche rechtsbildende Thätigkeit aus-
geübt und zwar nicht ſelten auf Koſten des geſetzlichen
Rechts, während ihr Beruf doch nur darin beſtand, die Geſetze
anzuwenden oder die Anwendung zu vermitteln. Aber ge-
rade dieſer Beruf gewährte beiden die Gelegenheit, den Werth
oder Unwerth derſelben, ihre Mängel, Lücken, ihre urſprüng-
liche oder erſt im Lauf der Zeit eingetretene praktiſche Unange-
meſſenheit, Unhaltbarkeit, wie kein Anderer, kennen zu lernen,

633) L. 14 C. de legit. her. (6. 58).
634) Gaj. II, 54 .. postea creditum est, ipsas hereditates usucapi
non posse.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0196" n="490"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chn. <hi rendition="#aq">III.</hi> Die juri&#x017F;t. Technik. <hi rendition="#aq">B.</hi> Des ält. Rechts.</fw><lb/>
und wahr&#x017F;cheinlich noch bevor die <hi rendition="#aq">lex Voconia</hi> das Bei&#x017F;piel zu<lb/>
einer Verkürzung des Erbrechts der Weiber gegeben hatte, fan-<lb/>
den die Juri&#x017F;ten <hi rendition="#aq">subtilitate quadam excogitata,</hi> wie Ju&#x017F;ti-<lb/>
nian <note place="foot" n="633)"><hi rendition="#aq">L. 14 C. de legit. her. (6. 58).</hi></note> &#x017F;agt, daß das Zwölftafelnge&#x017F;etz das Inte&#x017F;taterbrecht<lb/>
der Weiber auf agnati&#x017F;che Schwe&#x017F;tern hatte ein&#x017F;chränken wollen.<lb/>
Mit welcher Stirn hätte ein Juri&#x017F;t eine &#x017F;olche Behauptung vor-<lb/>
bringen dürfen, wenn er &#x017F;ich nicht eben bewußt gewe&#x017F;en, daß er<lb/>
nicht &#x017F;owohl das Ge&#x017F;etz auszulegen, als da&#x017F;&#x017F;elbe den Intere&#x017F;&#x017F;en<lb/>
und Bedürfni&#x017F;&#x017F;en der Zeit anzupa&#x017F;&#x017F;en den Beruf habe? Mit<lb/>
dem Wech&#x017F;el die&#x017F;er Bedürfni&#x017F;&#x017F;e wech&#x017F;elte daher auch die Inter-<lb/>
pretation. Zu einer gewi&#x017F;&#x017F;en Periode bedurfte es der U&#x017F;ucapion<lb/>
der Erb&#x017F;chaft, und &#x017F;ie war da, zu einer andern Periode war &#x017F;ie<lb/>
nicht mehr nöthig, und &#x017F;ie ver&#x017F;chwand, oder, wie Gajus &#x017F;agt, <note place="foot" n="634)"><hi rendition="#aq">Gaj. II, 54 .. postea creditum est, ipsas hereditates usucapi<lb/>
non posse.</hi></note><lb/>
man hielt es jetzt nicht mehr für <hi rendition="#g">möglich</hi>, daß Erb&#x017F;chaften u&#x017F;u-<lb/>
capirt werden könnten! Kurz! das <hi rendition="#g">tendentiö&#x017F;e Element</hi><lb/>
der älteren Interpretation &#x017F;cheint mir ganz unbe&#x017F;treitbar.</p><lb/>
                    <p>Ich bin aber weit entfernt, ihr daraus einen Vorwurf zu<lb/>
machen, im Gegentheil, glaube ich, darf man es der alten Ju-<lb/>
risprudenz zum Lobe anrechnen, daß &#x017F;ie, an&#x017F;tatt &#x017F;ich blindlings<lb/>
dem Ge&#x017F;etz unterzuordnen, da&#x017F;&#x017F;elbe vielmehr den Bedürfni&#x017F;&#x017F;en<lb/>
des Lebens und den Anforderungen der Zeit anzupa&#x017F;&#x017F;en ver-<lb/>
&#x017F;uchte. Sie läßt &#x017F;ich in die&#x017F;er Beziehung als Vorgängerin des<lb/>
Prätors bezeichnen, und was von letzterem, gilt auch von ihr.<lb/>
Beide haben eine &#x017F;ehr beträchtliche rechtsbildende Thätigkeit aus-<lb/>
geübt und zwar nicht &#x017F;elten auf Ko&#x017F;ten des <hi rendition="#g">ge&#x017F;etzlichen</hi><lb/>
Rechts, während ihr Beruf doch nur darin be&#x017F;tand, die Ge&#x017F;etze<lb/><hi rendition="#g">anzuwenden</hi> oder die Anwendung zu vermitteln. Aber ge-<lb/>
rade die&#x017F;er Beruf gewährte beiden die Gelegenheit, den Werth<lb/>
oder Unwerth der&#x017F;elben, ihre Mängel, Lücken, ihre ur&#x017F;prüng-<lb/>
liche oder er&#x017F;t im Lauf der Zeit eingetretene prakti&#x017F;che Unange-<lb/>
me&#x017F;&#x017F;enheit, Unhaltbarkeit, wie kein Anderer, kennen zu lernen,<lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[490/0196] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. und wahrſcheinlich noch bevor die lex Voconia das Beiſpiel zu einer Verkürzung des Erbrechts der Weiber gegeben hatte, fan- den die Juriſten subtilitate quadam excogitata, wie Juſti- nian 633) ſagt, daß das Zwölftafelngeſetz das Inteſtaterbrecht der Weiber auf agnatiſche Schweſtern hatte einſchränken wollen. Mit welcher Stirn hätte ein Juriſt eine ſolche Behauptung vor- bringen dürfen, wenn er ſich nicht eben bewußt geweſen, daß er nicht ſowohl das Geſetz auszulegen, als daſſelbe den Intereſſen und Bedürfniſſen der Zeit anzupaſſen den Beruf habe? Mit dem Wechſel dieſer Bedürfniſſe wechſelte daher auch die Inter- pretation. Zu einer gewiſſen Periode bedurfte es der Uſucapion der Erbſchaft, und ſie war da, zu einer andern Periode war ſie nicht mehr nöthig, und ſie verſchwand, oder, wie Gajus ſagt, 634) man hielt es jetzt nicht mehr für möglich, daß Erbſchaften uſu- capirt werden könnten! Kurz! das tendentiöſe Element der älteren Interpretation ſcheint mir ganz unbeſtreitbar. Ich bin aber weit entfernt, ihr daraus einen Vorwurf zu machen, im Gegentheil, glaube ich, darf man es der alten Ju- risprudenz zum Lobe anrechnen, daß ſie, anſtatt ſich blindlings dem Geſetz unterzuordnen, daſſelbe vielmehr den Bedürfniſſen des Lebens und den Anforderungen der Zeit anzupaſſen ver- ſuchte. Sie läßt ſich in dieſer Beziehung als Vorgängerin des Prätors bezeichnen, und was von letzterem, gilt auch von ihr. Beide haben eine ſehr beträchtliche rechtsbildende Thätigkeit aus- geübt und zwar nicht ſelten auf Koſten des geſetzlichen Rechts, während ihr Beruf doch nur darin beſtand, die Geſetze anzuwenden oder die Anwendung zu vermitteln. Aber ge- rade dieſer Beruf gewährte beiden die Gelegenheit, den Werth oder Unwerth derſelben, ihre Mängel, Lücken, ihre urſprüng- liche oder erſt im Lauf der Zeit eingetretene praktiſche Unange- meſſenheit, Unhaltbarkeit, wie kein Anderer, kennen zu lernen, 633) L. 14 C. de legit. her. (6. 58). 634) Gaj. II, 54 .. postea creditum est, ipsas hereditates usucapi non posse.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/196
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/196>, abgerufen am 13.05.2024.