Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44. und so lange man es nicht dahin gebracht haben wird, in denPersonen, die mittelbar oder unmittelbar dem Recht dienen, allen gesunden Sinn und alles Gefühl zu ersticken, wird die Opposition gegen ein unhaltbares Gesetz immer zuerst gerade von denen ausgehen, die ihm am nächsten stehen. In der Theo- rie möge man dies verdammen, wie man will, dem Richter na- mentlich noch so sehr die Pflicht einprägen, seinem Urtheil über die Unangemessenheit des Gesetzes keine praktische Folge zu ge- ben, die Thatsache wird dadurch nicht anders: dem Verdam- mungsurtheil der Juristen ist auf die Dauer kein Gesetz gewachsen. Absichtlich oder unabsichtlich wird die Hand des Richters läßig, der Arm der Gerechtigkeit erlahmt, der Scharfsinn des Exegeten bietet alle seine Erfindungskraft auf, das Gesetz zu durchlöchern und unterminiren, Voraussetzungen hin- einzutragen, von denen das Gesetz nichts wußte und wollte, die Worte, je nachdem es Noth thut, im weitern oder engern Sinn zu deuten, und wie durch stillschweigende Verschwörung finden auch die erzwungensten Deductionen Eingang und willigen Glau- ben -- auch die Logik fügt sich dem Interesse. Dieser stille Krieg der Juristen gegen das Gesetz wiederholt sich überall, wo ein Gesetz zu einer Unmöglichkeit geworden und doch von der Staatsgewalt nicht zurückgenommen wird. Es ist die natürliche Reaction des Rechtsgefühls gegen eine eclatante Mißachtung desselben von Seiten der Gesetzgebung. Ein Beispiel aus neue- rer Zeit bietet uns die Geschichte der peinlichen Halsgerichtsord- nung. In demselben Maße, in dem der Widerspruch stieg, den die veränderte Gefühls- und Denkweise einer späteren Zeit gegen die Härte ihrer Strafbestimmungen erhob, in demselben Maße ward die Kunst ihrer Interpreten erfinderischer, diese Härten zu beseitigen, und es konnte sich gar Einer derselben rühmen, daß er auch nicht einen Buchstaben mehr habe stehen lassen. Be- trachtet man derartige Tendenzinterpretationen, wie wir deren oben einige zur Probe angeführt haben, mit unbefangenem Auge d. h. vergißt man oder weiß man von vornherein nicht, Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44. und ſo lange man es nicht dahin gebracht haben wird, in denPerſonen, die mittelbar oder unmittelbar dem Recht dienen, allen geſunden Sinn und alles Gefühl zu erſticken, wird die Oppoſition gegen ein unhaltbares Geſetz immer zuerſt gerade von denen ausgehen, die ihm am nächſten ſtehen. In der Theo- rie möge man dies verdammen, wie man will, dem Richter na- mentlich noch ſo ſehr die Pflicht einprägen, ſeinem Urtheil über die Unangemeſſenheit des Geſetzes keine praktiſche Folge zu ge- ben, die Thatſache wird dadurch nicht anders: dem Verdam- mungsurtheil der Juriſten iſt auf die Dauer kein Geſetz gewachſen. Abſichtlich oder unabſichtlich wird die Hand des Richters läßig, der Arm der Gerechtigkeit erlahmt, der Scharfſinn des Exegeten bietet alle ſeine Erfindungskraft auf, das Geſetz zu durchlöchern und unterminiren, Vorausſetzungen hin- einzutragen, von denen das Geſetz nichts wußte und wollte, die Worte, je nachdem es Noth thut, im weitern oder engern Sinn zu deuten, und wie durch ſtillſchweigende Verſchwörung finden auch die erzwungenſten Deductionen Eingang und willigen Glau- ben — auch die Logik fügt ſich dem Intereſſe. Dieſer ſtille Krieg der Juriſten gegen das Geſetz wiederholt ſich überall, wo ein Geſetz zu einer Unmöglichkeit geworden und doch von der Staatsgewalt nicht zurückgenommen wird. Es iſt die natürliche Reaction des Rechtsgefühls gegen eine eclatante Mißachtung deſſelben von Seiten der Geſetzgebung. Ein Beiſpiel aus neue- rer Zeit bietet uns die Geſchichte der peinlichen Halsgerichtsord- nung. In demſelben Maße, in dem der Widerſpruch ſtieg, den die veränderte Gefühls- und Denkweiſe einer ſpäteren Zeit gegen die Härte ihrer Strafbeſtimmungen erhob, in demſelben Maße ward die Kunſt ihrer Interpreten erfinderiſcher, dieſe Härten zu beſeitigen, und es konnte ſich gar Einer derſelben rühmen, daß er auch nicht einen Buchſtaben mehr habe ſtehen laſſen. 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Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
und ſo lange man es nicht dahin gebracht haben wird, in den
Perſonen, die mittelbar oder unmittelbar dem Recht dienen,
allen geſunden Sinn und alles Gefühl zu erſticken, wird die
Oppoſition gegen ein unhaltbares Geſetz immer zuerſt gerade
von denen ausgehen, die ihm am nächſten ſtehen. In der Theo-
rie möge man dies verdammen, wie man will, dem Richter na-
mentlich noch ſo ſehr die Pflicht einprägen, ſeinem Urtheil über
die Unangemeſſenheit des Geſetzes keine praktiſche Folge zu ge-
ben, die Thatſache wird dadurch nicht anders: dem Verdam-
mungsurtheil der Juriſten iſt auf die Dauer kein
Geſetz gewachſen. Abſichtlich oder unabſichtlich wird die
Hand des Richters läßig, der Arm der Gerechtigkeit erlahmt, der
Scharfſinn des Exegeten bietet alle ſeine Erfindungskraft auf, das
Geſetz zu durchlöchern und unterminiren, Vorausſetzungen hin-
einzutragen, von denen das Geſetz nichts wußte und wollte, die
Worte, je nachdem es Noth thut, im weitern oder engern Sinn
zu deuten, und wie durch ſtillſchweigende Verſchwörung finden
auch die erzwungenſten Deductionen Eingang und willigen Glau-
ben — auch die Logik fügt ſich dem Intereſſe. Dieſer
ſtille Krieg der Juriſten gegen das Geſetz wiederholt ſich überall,
wo ein Geſetz zu einer Unmöglichkeit geworden und doch von der
Staatsgewalt nicht zurückgenommen wird. Es iſt die natürliche
Reaction des Rechtsgefühls gegen eine eclatante Mißachtung
deſſelben von Seiten der Geſetzgebung. Ein Beiſpiel aus neue-
rer Zeit bietet uns die Geſchichte der peinlichen Halsgerichtsord-
nung. In demſelben Maße, in dem der Widerſpruch ſtieg, den
die veränderte Gefühls- und Denkweiſe einer ſpäteren Zeit gegen
die Härte ihrer Strafbeſtimmungen erhob, in demſelben Maße
ward die Kunſt ihrer Interpreten erfinderiſcher, dieſe Härten zu
beſeitigen, und es konnte ſich gar Einer derſelben rühmen, daß
er auch nicht einen Buchſtaben mehr habe ſtehen laſſen. Be-
trachtet man derartige Tendenzinterpretationen, wie wir deren
oben einige zur Probe angeführt haben, mit unbefangenem
Auge d. h. vergißt man oder weiß man von vornherein nicht,
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