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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
welche Bewandniß es mit ihnen hat, so begreift man nicht, wie
sie bei ihrer völligen Unhaltbarkeit, bei ihrer offensichtlichen Un-
wahrheit nur den geringsten Beifall haben finden, ja wie sie
nur von irgend Jemand im Ernst haben aufgestellt werden kön-
nen. 635)

Dies ist der Gesichtspunkt, aus dem wir die alte Interpre-
tation zu beurtheilen haben. Materiell war das, was sie
einführte, gewiß völlig untadelhaft, durch ein gebieterisches Be-
dürfniß des Lebens motivirt, und in dieser Beziehung würde man
sehr Unrecht thun, den Vorwurf, den Cicero 636) den früheren
Juristen machte, daß sie das alte Recht corrumpirt hätten, für
einen ernstgemeinten zu halten. Der Impuls zu dieser angeb-
lichen Corruption ging nicht von ihnen, sondern von der Nation
aus, und hätten sie auch der Strömung der Zeit Widerstand
leisten wollen, so würde dieselbe sich in anderer Weise Bahn ge-
brochen haben. Aber eben weil und insoweit ihre Kunst ausreichte,
das Nöthige zu beschaffen, bedurfte es keiner Thätigkeit der Ge-
setzgebung, und letztere wird regelmäßig nur da eingegriffen ha-
ben, wo die Jurisprudenz sich außer Stand sah, sie zu ge-
währen.

635) In dieser Lage haben sich manche gelehrte Theoretiker der Neuzeit
gegenüber den Interpretationen der früheren Praktiker befunden und sich nicht
wenig darauf gedünkt, die Unrichtigkeit derselben aufzudecken. Verdienstlicher
wäre es gewesen zu fragen, ob denn diese Vorgänger so mit Blindheit ge-
schlagen waren, daß sie handgreifliche Unwahrheiten für wahr halten konnten.
Dann wäre man wohl dem wahren Grunde auf die Spur gekommen und hätte
sich nicht verleiten lassen im Widerspruch mit dem vielgepriesenen Vorbilde
der römischen Juristen und der Vorschrift der L. 23 de leg. (1. 3) an Sätzen
zu rütteln, die die Praxis ihrer selbst wegen für nöthig hielt, und für die
sie in den Quellen nur nach einem noch so schwachen äußeren Anhaltspunkt
suchte. Dahin gehört meiner Ansicht nach z. B. die Spolienklage und das
Summariissimum.
636) In der bekannten Stelle pro Murena c. 12 .. nam quum per-
multa praeclare legibus essent constituta, ea jurisconsultorum in-
geniis pleraque corrupta ac depravata suut.
Er selbst räumte bekanntlich
später ein, daß dies apud imperitos dicta gewesen sei, de finibus IV 27.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
welche Bewandniß es mit ihnen hat, ſo begreift man nicht, wie
ſie bei ihrer völligen Unhaltbarkeit, bei ihrer offenſichtlichen Un-
wahrheit nur den geringſten Beifall haben finden, ja wie ſie
nur von irgend Jemand im Ernſt haben aufgeſtellt werden kön-
nen. 635)

Dies iſt der Geſichtspunkt, aus dem wir die alte Interpre-
tation zu beurtheilen haben. Materiell war das, was ſie
einführte, gewiß völlig untadelhaft, durch ein gebieteriſches Be-
dürfniß des Lebens motivirt, und in dieſer Beziehung würde man
ſehr Unrecht thun, den Vorwurf, den Cicero 636) den früheren
Juriſten machte, daß ſie das alte Recht corrumpirt hätten, für
einen ernſtgemeinten zu halten. Der Impuls zu dieſer angeb-
lichen Corruption ging nicht von ihnen, ſondern von der Nation
aus, und hätten ſie auch der Strömung der Zeit Widerſtand
leiſten wollen, ſo würde dieſelbe ſich in anderer Weiſe Bahn ge-
brochen haben. Aber eben weil und inſoweit ihre Kunſt ausreichte,
das Nöthige zu beſchaffen, bedurfte es keiner Thätigkeit der Ge-
ſetzgebung, und letztere wird regelmäßig nur da eingegriffen ha-
ben, wo die Jurisprudenz ſich außer Stand ſah, ſie zu ge-
währen.

635) In dieſer Lage haben ſich manche gelehrte Theoretiker der Neuzeit
gegenüber den Interpretationen der früheren Praktiker befunden und ſich nicht
wenig darauf gedünkt, die Unrichtigkeit derſelben aufzudecken. Verdienſtlicher
wäre es geweſen zu fragen, ob denn dieſe Vorgänger ſo mit Blindheit ge-
ſchlagen waren, daß ſie handgreifliche Unwahrheiten für wahr halten konnten.
Dann wäre man wohl dem wahren Grunde auf die Spur gekommen und hätte
ſich nicht verleiten laſſen im Widerſpruch mit dem vielgeprieſenen Vorbilde
der römiſchen Juriſten und der Vorſchrift der L. 23 de leg. (1. 3) an Sätzen
zu rütteln, die die Praxis ihrer ſelbſt wegen für nöthig hielt, und für die
ſie in den Quellen nur nach einem noch ſo ſchwachen äußeren Anhaltspunkt
ſuchte. Dahin gehört meiner Anſicht nach z. B. die Spolienklage und das
Summariiſſimum.
636) In der bekannten Stelle pro Murena c. 12 .. nam quum per-
multa praeclare legibus essent constituta, ea jurisconsultorum in-
geniis pleraque corrupta ac depravata suut.
Er ſelbſt räumte bekanntlich
ſpäter ein, daß dies apud imperitos dicta geweſen ſei, de finibus IV 27.
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[492/0198] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. welche Bewandniß es mit ihnen hat, ſo begreift man nicht, wie ſie bei ihrer völligen Unhaltbarkeit, bei ihrer offenſichtlichen Un- wahrheit nur den geringſten Beifall haben finden, ja wie ſie nur von irgend Jemand im Ernſt haben aufgeſtellt werden kön- nen. 635) Dies iſt der Geſichtspunkt, aus dem wir die alte Interpre- tation zu beurtheilen haben. Materiell war das, was ſie einführte, gewiß völlig untadelhaft, durch ein gebieteriſches Be- dürfniß des Lebens motivirt, und in dieſer Beziehung würde man ſehr Unrecht thun, den Vorwurf, den Cicero 636) den früheren Juriſten machte, daß ſie das alte Recht corrumpirt hätten, für einen ernſtgemeinten zu halten. Der Impuls zu dieſer angeb- lichen Corruption ging nicht von ihnen, ſondern von der Nation aus, und hätten ſie auch der Strömung der Zeit Widerſtand leiſten wollen, ſo würde dieſelbe ſich in anderer Weiſe Bahn ge- brochen haben. Aber eben weil und inſoweit ihre Kunſt ausreichte, das Nöthige zu beſchaffen, bedurfte es keiner Thätigkeit der Ge- ſetzgebung, und letztere wird regelmäßig nur da eingegriffen ha- ben, wo die Jurisprudenz ſich außer Stand ſah, ſie zu ge- währen. 635) In dieſer Lage haben ſich manche gelehrte Theoretiker der Neuzeit gegenüber den Interpretationen der früheren Praktiker befunden und ſich nicht wenig darauf gedünkt, die Unrichtigkeit derſelben aufzudecken. Verdienſtlicher wäre es geweſen zu fragen, ob denn dieſe Vorgänger ſo mit Blindheit ge- ſchlagen waren, daß ſie handgreifliche Unwahrheiten für wahr halten konnten. Dann wäre man wohl dem wahren Grunde auf die Spur gekommen und hätte ſich nicht verleiten laſſen im Widerſpruch mit dem vielgeprieſenen Vorbilde der römiſchen Juriſten und der Vorſchrift der L. 23 de leg. (1. 3) an Sätzen zu rütteln, die die Praxis ihrer ſelbſt wegen für nöthig hielt, und für die ſie in den Quellen nur nach einem noch ſo ſchwachen äußeren Anhaltspunkt ſuchte. Dahin gehört meiner Anſicht nach z. B. die Spolienklage und das Summariiſſimum. 636) In der bekannten Stelle pro Murena c. 12 .. nam quum per- multa praeclare legibus essent constituta, ea jurisconsultorum in- geniis pleraque corrupta ac depravata suut. Er ſelbſt räumte bekanntlich ſpäter ein, daß dies apud imperitos dicta geweſen ſei, de finibus IV 27.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/198>, abgerufen am 13.05.2024.