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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
die Apprehension des Besitzes kein formeller Act, denn die Noth-
wendigkeit derselben ist eine innere, sie liegt in dem Zustand,
den sie begründen soll, und verhält sich zum Besitz kaum anders,
als die Geburt zum Leben. Dies Moment der Positivität
der Form im Gegensatz zu der rationellen Natur der Formlosig-
keit ist auch den römischen Juristen nicht entgangen, wie seiner
Zeit bei dem Gegensatz des jus civile und jus gentium nach-
gewiesen werden wird.

Der bisher entwickelte Gegensatz der Freiheit und Unfreiheit
rücksichtlich der Aeußerungsform des Willens schließt einen an-
dern in sich, nämlich den des Individuellen und Ab-
stracten
. Die freie Form ist zugleich eine individuelle,
denn sie geht ganz auf in diesem bestimmten Rechtsgeschäft, sie
entsteht und vergeht mit ihm, ja sie ist im Grunde nichts, als
dieser bestimmte concrete Inhalt von Seiten seiner Sichtbar-
keit. Die unfreie Form hingegen ist zugleich eine abstracte,
stereotype
. Denn wenn sie gleich nur an und in dem concre-
ten Rechtsgeschäft zur Erscheinung gelangt, so hat sie doch
andererseits eine davon unabhängige (abstracte) Existenz, sie
geht nicht hervor und auf in diesem bestimmten Rechtsgeschäft,
sondern sie tritt von außen als etwas Fremdes, bereits Vorhan-
denes, Gegebenes, Selbständiges mit dem Anspruch auf unbe-
dingte Beachtung an das Rechtsgeschäft heran, und die Bil-
dung des letzteren erfolgt durch eine Combination zweier sepa-
rater Elemente: des concreten Inhalts und der ein für alle
Male bestimmten Form. So erklärt sich der obige engere
Sprachgebrauch rücksichtlich des Ausdrucks Form, demzufolge
die Rechtsgeschäfte mit freier Form als "formlose" gelten. Bei
letzteren nämlich, bei denen die Form ganz dem Willen anheim
gegeben ist, 654) gelangt die Form nicht zur eignen selbständigen
Existenz, sie ist ein bloßes Accidens des Inhalts, bei den for-

654) Daher bezeichnen die Römer das Princip der Formlosigkeit mit
Recht als Princip des nackten Willens, nuda voluntas im Gegensatz zum
rigor juris civilis z. B. Ulp. XXV, 1. L. 18 de leg. III (32).

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
die Apprehenſion des Beſitzes kein formeller Act, denn die Noth-
wendigkeit derſelben iſt eine innere, ſie liegt in dem Zuſtand,
den ſie begründen ſoll, und verhält ſich zum Beſitz kaum anders,
als die Geburt zum Leben. Dies Moment der Poſitivität
der Form im Gegenſatz zu der rationellen Natur der Formloſig-
keit iſt auch den römiſchen Juriſten nicht entgangen, wie ſeiner
Zeit bei dem Gegenſatz des jus civile und jus gentium nach-
gewieſen werden wird.

Der bisher entwickelte Gegenſatz der Freiheit und Unfreiheit
rückſichtlich der Aeußerungsform des Willens ſchließt einen an-
dern in ſich, nämlich den des Individuellen und Ab-
ſtracten
. Die freie Form iſt zugleich eine individuelle,
denn ſie geht ganz auf in dieſem beſtimmten Rechtsgeſchäft, ſie
entſteht und vergeht mit ihm, ja ſie iſt im Grunde nichts, als
dieſer beſtimmte concrete Inhalt von Seiten ſeiner Sichtbar-
keit. Die unfreie Form hingegen iſt zugleich eine abſtracte,
ſtereotype
. Denn wenn ſie gleich nur an und in dem concre-
ten Rechtsgeſchäft zur Erſcheinung gelangt, ſo hat ſie doch
andererſeits eine davon unabhängige (abſtracte) Exiſtenz, ſie
geht nicht hervor und auf in dieſem beſtimmten Rechtsgeſchäft,
ſondern ſie tritt von außen als etwas Fremdes, bereits Vorhan-
denes, Gegebenes, Selbſtändiges mit dem Anſpruch auf unbe-
dingte Beachtung an das Rechtsgeſchäft heran, und die Bil-
dung des letzteren erfolgt durch eine Combination zweier ſepa-
rater Elemente: des concreten Inhalts und der ein für alle
Male beſtimmten Form. So erklärt ſich der obige engere
Sprachgebrauch rückſichtlich des Ausdrucks Form, demzufolge
die Rechtsgeſchäfte mit freier Form als „formloſe“ gelten. Bei
letzteren nämlich, bei denen die Form ganz dem Willen anheim
gegeben iſt, 654) gelangt die Form nicht zur eignen ſelbſtändigen
Exiſtenz, ſie iſt ein bloßes Accidens des Inhalts, bei den for-

654) Daher bezeichnen die Römer das Princip der Formloſigkeit mit
Recht als Princip des nackten Willens, nuda voluntas im Gegenſatz zum
rigor juris civilis z. B. Ulp. XXV, 1. L. 18 de leg. III (32).
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[502/0208] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. die Apprehenſion des Beſitzes kein formeller Act, denn die Noth- wendigkeit derſelben iſt eine innere, ſie liegt in dem Zuſtand, den ſie begründen ſoll, und verhält ſich zum Beſitz kaum anders, als die Geburt zum Leben. Dies Moment der Poſitivität der Form im Gegenſatz zu der rationellen Natur der Formloſig- keit iſt auch den römiſchen Juriſten nicht entgangen, wie ſeiner Zeit bei dem Gegenſatz des jus civile und jus gentium nach- gewieſen werden wird. Der bisher entwickelte Gegenſatz der Freiheit und Unfreiheit rückſichtlich der Aeußerungsform des Willens ſchließt einen an- dern in ſich, nämlich den des Individuellen und Ab- ſtracten. Die freie Form iſt zugleich eine individuelle, denn ſie geht ganz auf in dieſem beſtimmten Rechtsgeſchäft, ſie entſteht und vergeht mit ihm, ja ſie iſt im Grunde nichts, als dieſer beſtimmte concrete Inhalt von Seiten ſeiner Sichtbar- keit. Die unfreie Form hingegen iſt zugleich eine abſtracte, ſtereotype. Denn wenn ſie gleich nur an und in dem concre- ten Rechtsgeſchäft zur Erſcheinung gelangt, ſo hat ſie doch andererſeits eine davon unabhängige (abſtracte) Exiſtenz, ſie geht nicht hervor und auf in dieſem beſtimmten Rechtsgeſchäft, ſondern ſie tritt von außen als etwas Fremdes, bereits Vorhan- denes, Gegebenes, Selbſtändiges mit dem Anſpruch auf unbe- dingte Beachtung an das Rechtsgeſchäft heran, und die Bil- dung des letzteren erfolgt durch eine Combination zweier ſepa- rater Elemente: des concreten Inhalts und der ein für alle Male beſtimmten Form. So erklärt ſich der obige engere Sprachgebrauch rückſichtlich des Ausdrucks Form, demzufolge die Rechtsgeſchäfte mit freier Form als „formloſe“ gelten. Bei letzteren nämlich, bei denen die Form ganz dem Willen anheim gegeben iſt, 654) gelangt die Form nicht zur eignen ſelbſtändigen Exiſtenz, ſie iſt ein bloßes Accidens des Inhalts, bei den for- 654) Daher bezeichnen die Römer das Princip der Formloſigkeit mit Recht als Princip des nackten Willens, nuda voluntas im Gegenſatz zum rigor juris civilis z. B. Ulp. XXV, 1. L. 18 de leg. III (32).

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 502. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/208>, abgerufen am 23.11.2024.