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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
mellen Geschäften hingegen ist die Form in der That zum Range
einer eignen juristischen Größe, zur selbständigen Existenz erho-
ben. So läßt sich also der Gegensatz der formlosen und formel-
len Geschäfte oder, um hier gleich den Ausdruck einzuführen,
mit dem ich ihn fortan bezeichnen werde, der Gegensatz der
Formlosigkeit und des Formalismus, auf jenen allgemeinen
Gegensatz zurückführen, der sich uns bereits verschiedentlich als
einer der Angelpunkte des älteren und neueren römischen Rechts
bewährt hat (s. z. B. S. 93 fl., S. 119 fl., S. 473), auf
den des Individualismus und der abstracten Gleichheit.

Erscheint nun dem bisherigen nach das Princip der Form-
losigkeit vom aprioristischen Standpunkt aus als das nor-
male, weil dem natürlichen Verhältniß zwischen Form und In-
halt entsprechende, das des Formalismus aber wegen seiner
Abweichung von demselben als das irreguläre, so möchte man
erwarten, daß sich dieses aprioristische Verhältniß beider auch
historisch bethätigte, d. h. daß ersteres die Regel, letzteres die
Ausnahme bilde. Diese Annahme trifft in der That für unser
heutiges gemeines Recht zu, nichts desto weniger aber ist sie falsch.
Ueberhaupt straft die Geschichte unsere Erwartung hier in jeder
Weise Lügen. Würde uns gesagt, daß von den drei Möglich-
keiten, wie das positive Recht sich zu unserm Gegensatz verhal-
ten kann, der Combination beider Principien, der ausschließ-
lichen Herrschaft der Formlosigkeit und der ausschließlichen Herr-
schaft des Formalismus nur zwei historisch sich realisirt hätten,
so würde ohne Zweifel Jeder auf die beiden ersten rathen und
sicherlich ebensosehr darüber frappirt sein, daß der dritte Fall
dazu, als daß der zweite nicht dazu gehört. Mit der Form-
losigkeit, so scheinbar natürlich sie ist, allein kann das Recht
nicht bestehen, mit dem Formalismus wohl; es erträgt
eher das äußerste Uebermaß, als den gänzlichen
Mangel der Form
.

Diese Hinneigung des Rechts zur Form läßt auf ein inne-
res Bedürfniß oder auf eine eigenthümliche den Zwecken des

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
mellen Geſchäften hingegen iſt die Form in der That zum Range
einer eignen juriſtiſchen Größe, zur ſelbſtändigen Exiſtenz erho-
ben. So läßt ſich alſo der Gegenſatz der formloſen und formel-
len Geſchäfte oder, um hier gleich den Ausdruck einzuführen,
mit dem ich ihn fortan bezeichnen werde, der Gegenſatz der
Formloſigkeit und des Formalismus, auf jenen allgemeinen
Gegenſatz zurückführen, der ſich uns bereits verſchiedentlich als
einer der Angelpunkte des älteren und neueren römiſchen Rechts
bewährt hat (ſ. z. B. S. 93 fl., S. 119 fl., S. 473), auf
den des Individualismus und der abſtracten Gleichheit.

Erſcheint nun dem bisherigen nach das Princip der Form-
loſigkeit vom aprioriſtiſchen Standpunkt aus als das nor-
male, weil dem natürlichen Verhältniß zwiſchen Form und In-
halt entſprechende, das des Formalismus aber wegen ſeiner
Abweichung von demſelben als das irreguläre, ſo möchte man
erwarten, daß ſich dieſes aprioriſtiſche Verhältniß beider auch
hiſtoriſch bethätigte, d. h. daß erſteres die Regel, letzteres die
Ausnahme bilde. Dieſe Annahme trifft in der That für unſer
heutiges gemeines Recht zu, nichts deſto weniger aber iſt ſie falſch.
Ueberhaupt ſtraft die Geſchichte unſere Erwartung hier in jeder
Weiſe Lügen. Würde uns geſagt, daß von den drei Möglich-
keiten, wie das poſitive Recht ſich zu unſerm Gegenſatz verhal-
ten kann, der Combination beider Principien, der ausſchließ-
lichen Herrſchaft der Formloſigkeit und der ausſchließlichen Herr-
ſchaft des Formalismus nur zwei hiſtoriſch ſich realiſirt hätten,
ſo würde ohne Zweifel Jeder auf die beiden erſten rathen und
ſicherlich ebenſoſehr darüber frappirt ſein, daß der dritte Fall
dazu, als daß der zweite nicht dazu gehört. Mit der Form-
loſigkeit, ſo ſcheinbar natürlich ſie iſt, allein kann das Recht
nicht beſtehen, mit dem Formalismus wohl; es erträgt
eher das äußerſte Uebermaß, als den gänzlichen
Mangel der Form
.

Dieſe Hinneigung des Rechts zur Form läßt auf ein inne-
res Bedürfniß oder auf eine eigenthümliche den Zwecken des

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[503/0209] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45. mellen Geſchäften hingegen iſt die Form in der That zum Range einer eignen juriſtiſchen Größe, zur ſelbſtändigen Exiſtenz erho- ben. So läßt ſich alſo der Gegenſatz der formloſen und formel- len Geſchäfte oder, um hier gleich den Ausdruck einzuführen, mit dem ich ihn fortan bezeichnen werde, der Gegenſatz der Formloſigkeit und des Formalismus, auf jenen allgemeinen Gegenſatz zurückführen, der ſich uns bereits verſchiedentlich als einer der Angelpunkte des älteren und neueren römiſchen Rechts bewährt hat (ſ. z. B. S. 93 fl., S. 119 fl., S. 473), auf den des Individualismus und der abſtracten Gleichheit. Erſcheint nun dem bisherigen nach das Princip der Form- loſigkeit vom aprioriſtiſchen Standpunkt aus als das nor- male, weil dem natürlichen Verhältniß zwiſchen Form und In- halt entſprechende, das des Formalismus aber wegen ſeiner Abweichung von demſelben als das irreguläre, ſo möchte man erwarten, daß ſich dieſes aprioriſtiſche Verhältniß beider auch hiſtoriſch bethätigte, d. h. daß erſteres die Regel, letzteres die Ausnahme bilde. Dieſe Annahme trifft in der That für unſer heutiges gemeines Recht zu, nichts deſto weniger aber iſt ſie falſch. Ueberhaupt ſtraft die Geſchichte unſere Erwartung hier in jeder Weiſe Lügen. Würde uns geſagt, daß von den drei Möglich- keiten, wie das poſitive Recht ſich zu unſerm Gegenſatz verhal- ten kann, der Combination beider Principien, der ausſchließ- lichen Herrſchaft der Formloſigkeit und der ausſchließlichen Herr- ſchaft des Formalismus nur zwei hiſtoriſch ſich realiſirt hätten, ſo würde ohne Zweifel Jeder auf die beiden erſten rathen und ſicherlich ebenſoſehr darüber frappirt ſein, daß der dritte Fall dazu, als daß der zweite nicht dazu gehört. Mit der Form- loſigkeit, ſo ſcheinbar natürlich ſie iſt, allein kann das Recht nicht beſtehen, mit dem Formalismus wohl; es erträgt eher das äußerſte Uebermaß, als den gänzlichen Mangel der Form. Dieſe Hinneigung des Rechts zur Form läßt auf ein inne- res Bedürfniß oder auf eine eigenthümliche den Zwecken des

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/209>, abgerufen am 23.11.2024.