Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Zu diesen für alle Zeiten Anwendung findenden Gründen gesellen sich nun für gewisse Culturstufen der Völker und Rechte noch andere hinzu, die dieser Einrichtung für sie eine erhöhte Brauchbarkeit und Geltung verschaffen. In einer Zeit, wo die Schreibkunde und die Herrschaft über die Sprache keine allge- meine Verbreitung erlangt hat, wird Jeder, der derselben erman- gelt, bei allen einigermaßen wichtigen und complicirten Ge- schäften fast mit Nothwendigkeit zum Gebrauch des Formulars getrieben. Andererseits sind jene Stufen, die wir hier im Auge haben, zugleich die, auf denen das Recht und namentlich das s. g. dispositive (besser vielleicht: suppletorische) Recht am we- nigsten entwickelt ist. Unser heutiges Recht ergänzt in vielfacher Weise den ausgesprochenen Willen der Partheien, vorzugsweise bei Verträgen; eine Menge von Punkten brauchen nicht aus- bedungen zu werden, das Gesetz supplirt sie als präsumtiven Willen der Parthei (s. g. naturalia negotii), so z. B. beim Kauf den Anspruch des Verkäufers auf die Zinsen des Kauf- preises nach Lieferung der Sache, so im späteren römischen Recht das Recht des Pfandverkaufs, das früher durch ein ausdrück- liches pactum de vendendo hatte ausbedungen werden müssen, ja in einigen Fällen das Pfandrecht selbst (pignus tacitum). Bei einer solchen Gestalt des Rechts können sich die Partheien, ohne in den meisten Fällen sonderlich Gefahr zu laufen, auf die Hauptpunkte des Geschäfts beschränken; das Gesetz, die Juris- prudenz thut ein übriges. Anders aber auf der von uns suppo- nirten Stufe der Entwicklung des Rechts. Hier fehlt jene Er- gänzung, und was gelten soll, muß von den Partheien selbst gesetzt sein, die "lex contractus" muß um so vollständiger sein, als die lex publica lückenhaft ist (S. 313). Eine Menge von Bestimmungen, die in späterer Zeit die letztere Form angenom- men haben, mußten sich Jahrhunderte lang mit der ersteren be- gnügen. 785)
785) Im dritten System werde ich diesen Uebergang conventioneller
Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Zu dieſen für alle Zeiten Anwendung findenden Gründen geſellen ſich nun für gewiſſe Culturſtufen der Völker und Rechte noch andere hinzu, die dieſer Einrichtung für ſie eine erhöhte Brauchbarkeit und Geltung verſchaffen. In einer Zeit, wo die Schreibkunde und die Herrſchaft über die Sprache keine allge- meine Verbreitung erlangt hat, wird Jeder, der derſelben erman- gelt, bei allen einigermaßen wichtigen und complicirten Ge- ſchäften faſt mit Nothwendigkeit zum Gebrauch des Formulars getrieben. Andererſeits ſind jene Stufen, die wir hier im Auge haben, zugleich die, auf denen das Recht und namentlich das ſ. g. dispoſitive (beſſer vielleicht: ſuppletoriſche) Recht am we- nigſten entwickelt iſt. Unſer heutiges Recht ergänzt in vielfacher Weiſe den ausgeſprochenen Willen der Partheien, vorzugsweiſe bei Verträgen; eine Menge von Punkten brauchen nicht aus- bedungen zu werden, das Geſetz ſupplirt ſie als präſumtiven Willen der Parthei (ſ. g. naturalia negotii), ſo z. B. beim Kauf den Anſpruch des Verkäufers auf die Zinſen des Kauf- preiſes nach Lieferung der Sache, ſo im ſpäteren römiſchen Recht das Recht des Pfandverkaufs, das früher durch ein ausdrück- liches pactum de vendendo hatte ausbedungen werden müſſen, ja in einigen Fällen das Pfandrecht ſelbſt (pignus tacitum). Bei einer ſolchen Geſtalt des Rechts können ſich die Partheien, ohne in den meiſten Fällen ſonderlich Gefahr zu laufen, auf die Hauptpunkte des Geſchäfts beſchränken; das Geſetz, die Juris- prudenz thut ein übriges. Anders aber auf der von uns ſuppo- nirten Stufe der Entwicklung des Rechts. Hier fehlt jene Er- gänzung, und was gelten ſoll, muß von den Partheien ſelbſt geſetzt ſein, die „lex contractus“ muß um ſo vollſtändiger ſein, als die lex publica lückenhaft iſt (S. 313). Eine Menge von Beſtimmungen, die in ſpäterer Zeit die letztere Form angenom- men haben, mußten ſich Jahrhunderte lang mit der erſteren be- gnügen. 785)
785) Im dritten Syſtem werde ich dieſen Uebergang conventioneller
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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Zu dieſen für alle Zeiten Anwendung findenden Gründen
geſellen ſich nun für gewiſſe Culturſtufen der Völker und Rechte
noch andere hinzu, die dieſer Einrichtung für ſie eine erhöhte
Brauchbarkeit und Geltung verſchaffen. In einer Zeit, wo die
Schreibkunde und die Herrſchaft über die Sprache keine allge-
meine Verbreitung erlangt hat, wird Jeder, der derſelben erman-
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ſchäften faſt mit Nothwendigkeit zum Gebrauch des Formulars
getrieben. Andererſeits ſind jene Stufen, die wir hier im Auge
haben, zugleich die, auf denen das Recht und namentlich das
ſ. g. dispoſitive (beſſer vielleicht: ſuppletoriſche) Recht am we-
nigſten entwickelt iſt. Unſer heutiges Recht ergänzt in vielfacher
Weiſe den ausgeſprochenen Willen der Partheien, vorzugsweiſe
bei Verträgen; eine Menge von Punkten brauchen nicht aus-
bedungen zu werden, das Geſetz ſupplirt ſie als präſumtiven
Willen der Parthei (ſ. g. naturalia negotii), ſo z. B. beim
Kauf den Anſpruch des Verkäufers auf die Zinſen des Kauf-
preiſes nach Lieferung der Sache, ſo im ſpäteren römiſchen Recht
das Recht des Pfandverkaufs, das früher durch ein ausdrück-
liches pactum de vendendo hatte ausbedungen werden müſſen,
ja in einigen Fällen das Pfandrecht ſelbſt (pignus tacitum).
Bei einer ſolchen Geſtalt des Rechts können ſich die Partheien,
ohne in den meiſten Fällen ſonderlich Gefahr zu laufen, auf die
Hauptpunkte des Geſchäfts beſchränken; das Geſetz, die Juris-
prudenz thut ein übriges. Anders aber auf der von uns ſuppo-
nirten Stufe der Entwicklung des Rechts. Hier fehlt jene Er-
gänzung, und was gelten ſoll, muß von den Partheien ſelbſt
geſetzt ſein, die „lex contractus“ muß um ſo vollſtändiger ſein,
als die lex publica lückenhaft iſt (S. 313). Eine Menge von
Beſtimmungen, die in ſpäterer Zeit die letztere Form angenom-
men haben, mußten ſich Jahrhunderte lang mit der erſteren be-
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 605. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/311>, abgerufen am 21.11.2024.
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