Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
kannt, daß der Schwörende die ihm vorgesprochene Eidesfor-
mel wörtlich nachzubeten hatte, sich also nicht mit einem abstrac-
ten "So schwöre ich" begnügen durfte. Nur wo die Masse,
z. B. das Volk bei Gesetzvorschlägen oder das Heer bei Ablei-
stung des Fahneneides, eine Willenserklärung abzulegen hatte,
mag man nothgedrungen von Altersher eine Ausnahme gemacht
und eine abstracte Erklärung zugelassen haben. Damit hängt
die Sitte der Präjurationen zusammen, vermöge welcher bloß
Einzelne den ganzen Eid hersagten und die Andern lediglich mit
"ebenso ich" ihren Beitritt erklärten. 807)

Kehren wir jetzt zu der Verbindung der Schrift und Rede
zurück, so glaube ich, daß eine bloße Verweisung auf die Schrift
ohne Mittheilung ihres Inhalts im älteren Rechte unstatthaft
war, hier vielmehr der ganze Inhalt der Schrift vorgelesen
werden mußte. Halten wir uns zunächst an die beiden genann-
ten Fälle des öffentlichen Rechts: die Gesetze und Bündnisse,
so ist es bekannt, daß der Gesetzantrag dem Volk wörtlich vor-
gelegt werden mußte, und die Kraft des geschriebenen Ge-
setzes nicht auf der Schrift, sondern auf der mündlichen Vor-
lage und Annahme beruhte. Was die Bündnisse betrifft, so ist
uns von Livius 808) die Formel ihres Abschlusses aufbewahrt,
und diese gedenkt ausdrücklich der geschehenen Verlesung.
Auch bei Gelübden, namentlich den öffentlichen, war die schrift-
liche Aufzeichnung eine ganz häufige (tabulae votivae), und

807) Festus: Praejurationes facere dicuntur hi, qui ante alios con-
ceptis verbis jurant, post quos in eadem verba jurantes tantummodo
dicunt: idem in me. Polyb. VI, 21.
Becker Handbuch der röm. Alterth.
(Marquardt) III. Abth. 2 S. 291. Bei Tac. Hist. IV, 31 spricht jeder der
Soldaten den Eid vollständig nach. Liv. II, 45. XXVIII, 29 läßt gar nicht
erkennen, in welcher Weise der Eid abgeleistet ist.
808) Liv. I, 24. Legibus (foederis) deinde recitatis: Audi, inquit,
Jupiter .... ut illa palam prima postrema
(vom Anfang bis zu Ende)
ex illis tabulis cerave recitata sunt .. illis legibus popu-
lus Romanus prior non deficiet.

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
kannt, daß der Schwörende die ihm vorgeſprochene Eidesfor-
mel wörtlich nachzubeten hatte, ſich alſo nicht mit einem abſtrac-
ten „So ſchwöre ich“ begnügen durfte. Nur wo die Maſſe,
z. B. das Volk bei Geſetzvorſchlägen oder das Heer bei Ablei-
ſtung des Fahneneides, eine Willenserklärung abzulegen hatte,
mag man nothgedrungen von Altersher eine Ausnahme gemacht
und eine abſtracte Erklärung zugelaſſen haben. Damit hängt
die Sitte der Präjurationen zuſammen, vermöge welcher bloß
Einzelne den ganzen Eid herſagten und die Andern lediglich mit
„ebenſo ich“ ihren Beitritt erklärten. 807)

Kehren wir jetzt zu der Verbindung der Schrift und Rede
zurück, ſo glaube ich, daß eine bloße Verweiſung auf die Schrift
ohne Mittheilung ihres Inhalts im älteren Rechte unſtatthaft
war, hier vielmehr der ganze Inhalt der Schrift vorgeleſen
werden mußte. Halten wir uns zunächſt an die beiden genann-
ten Fälle des öffentlichen Rechts: die Geſetze und Bündniſſe,
ſo iſt es bekannt, daß der Geſetzantrag dem Volk wörtlich vor-
gelegt werden mußte, und die Kraft des geſchriebenen Ge-
ſetzes nicht auf der Schrift, ſondern auf der mündlichen Vor-
lage und Annahme beruhte. Was die Bündniſſe betrifft, ſo iſt
uns von Livius 808) die Formel ihres Abſchluſſes aufbewahrt,
und dieſe gedenkt ausdrücklich der geſchehenen Verleſung.
Auch bei Gelübden, namentlich den öffentlichen, war die ſchrift-
liche Aufzeichnung eine ganz häufige (tabulae votivae), und

807) Festus: Praejurationes facere dicuntur hi, qui ante alios con-
ceptis verbis jurant, post quos in eadem verba jurantes tantummodo
dicunt: idem in me. Polyb. VI, 21.
Becker Handbuch der röm. Alterth.
(Marquardt) III. Abth. 2 S. 291. Bei Tac. Hist. IV, 31 ſpricht jeder der
Soldaten den Eid vollſtändig nach. Liv. II, 45. XXVIII, 29 läßt gar nicht
erkennen, in welcher Weiſe der Eid abgeleiſtet iſt.
808) Liv. I, 24. Legibus (foederis) deinde recitatis: Audi, inquit,
Jupiter .... ut illa palam prima postrema
(vom Anfang bis zu Ende)
ex illis tabulis cerave recitata sunt .. illis legibus popu-
lus Romanus prior non deficiet.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <div n="9">
                        <p><pb facs="#f0325" n="619"/><fw place="top" type="header">Haften an der Aeußerlichkeit. <hi rendition="#aq">III.</hi> Der Formalismus. §. 47.</fw><lb/>
kannt, daß der Schwörende die ihm vorge&#x017F;prochene Eidesfor-<lb/>
mel wörtlich nachzubeten hatte, &#x017F;ich al&#x017F;o nicht mit einem ab&#x017F;trac-<lb/>
ten &#x201E;So &#x017F;chwöre ich&#x201C; begnügen durfte. Nur wo die <hi rendition="#g">Ma&#x017F;&#x017F;e</hi>,<lb/>
z. B. das Volk bei Ge&#x017F;etzvor&#x017F;chlägen oder das Heer bei Ablei-<lb/>
&#x017F;tung des Fahneneides, eine Willenserklärung abzulegen hatte,<lb/>
mag man nothgedrungen von Altersher eine Ausnahme gemacht<lb/>
und eine ab&#x017F;tracte Erklärung zugela&#x017F;&#x017F;en haben. Damit hängt<lb/>
die Sitte der Präjurationen zu&#x017F;ammen, vermöge welcher bloß<lb/>
Einzelne den ganzen Eid her&#x017F;agten und die Andern lediglich mit<lb/>
&#x201E;eben&#x017F;o ich&#x201C; ihren Beitritt erklärten. <note place="foot" n="807)"><hi rendition="#aq">Festus: Praejurationes facere dicuntur hi, qui ante alios con-<lb/>
ceptis verbis jurant, post quos in eadem verba jurantes tantummodo<lb/>
dicunt: idem in me. Polyb. VI, 21.</hi> Becker Handbuch der röm. Alterth.<lb/>
(Marquardt) <hi rendition="#aq">III.</hi> Abth. 2 S. 291. Bei <hi rendition="#aq">Tac. Hist. IV, 31</hi> &#x017F;pricht jeder der<lb/>
Soldaten den Eid voll&#x017F;tändig nach. <hi rendition="#aq">Liv. II, 45. XXVIII, 29</hi> läßt gar nicht<lb/>
erkennen, in welcher Wei&#x017F;e der Eid abgelei&#x017F;tet i&#x017F;t.</note></p><lb/>
                        <p>Kehren wir jetzt zu der Verbindung der Schrift und Rede<lb/>
zurück, &#x017F;o glaube ich, daß eine bloße Verwei&#x017F;ung auf die Schrift<lb/>
ohne Mittheilung ihres Inhalts im älteren Rechte un&#x017F;tatthaft<lb/>
war, hier vielmehr der ganze Inhalt der Schrift vorgele&#x017F;en<lb/>
werden mußte. Halten wir uns zunäch&#x017F;t an die beiden genann-<lb/>
ten Fälle des öffentlichen Rechts: die Ge&#x017F;etze und Bündni&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
&#x017F;o i&#x017F;t es bekannt, daß der Ge&#x017F;etzantrag dem Volk <hi rendition="#g">wörtlich</hi> vor-<lb/>
gelegt werden mußte, und die Kraft des <hi rendition="#g">ge&#x017F;chriebenen</hi> Ge-<lb/>
&#x017F;etzes nicht auf der Schrift, &#x017F;ondern auf der mündlichen Vor-<lb/>
lage und Annahme beruhte. Was die Bündni&#x017F;&#x017F;e betrifft, &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
uns von Livius <note place="foot" n="808)"><hi rendition="#aq">Liv. I, 24. Legibus (foederis) deinde recitatis: Audi, inquit,<lb/>
Jupiter .... ut illa palam prima postrema</hi> (vom Anfang bis zu Ende)<lb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">ex illis tabulis cerave recitata sunt</hi> .. illis legibus popu-<lb/>
lus Romanus prior non deficiet.</hi></note> die Formel ihres Ab&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;es aufbewahrt,<lb/>
und die&#x017F;e gedenkt ausdrücklich der <hi rendition="#g">ge&#x017F;chehenen Verle&#x017F;ung</hi>.<lb/>
Auch bei Gelübden, namentlich den öffentlichen, war die &#x017F;chrift-<lb/>
liche Aufzeichnung eine ganz häufige (<hi rendition="#aq">tabulae votivae</hi>), und<lb/></p>
                      </div>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[619/0325] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47. kannt, daß der Schwörende die ihm vorgeſprochene Eidesfor- mel wörtlich nachzubeten hatte, ſich alſo nicht mit einem abſtrac- ten „So ſchwöre ich“ begnügen durfte. Nur wo die Maſſe, z. B. das Volk bei Geſetzvorſchlägen oder das Heer bei Ablei- ſtung des Fahneneides, eine Willenserklärung abzulegen hatte, mag man nothgedrungen von Altersher eine Ausnahme gemacht und eine abſtracte Erklärung zugelaſſen haben. Damit hängt die Sitte der Präjurationen zuſammen, vermöge welcher bloß Einzelne den ganzen Eid herſagten und die Andern lediglich mit „ebenſo ich“ ihren Beitritt erklärten. 807) Kehren wir jetzt zu der Verbindung der Schrift und Rede zurück, ſo glaube ich, daß eine bloße Verweiſung auf die Schrift ohne Mittheilung ihres Inhalts im älteren Rechte unſtatthaft war, hier vielmehr der ganze Inhalt der Schrift vorgeleſen werden mußte. Halten wir uns zunächſt an die beiden genann- ten Fälle des öffentlichen Rechts: die Geſetze und Bündniſſe, ſo iſt es bekannt, daß der Geſetzantrag dem Volk wörtlich vor- gelegt werden mußte, und die Kraft des geſchriebenen Ge- ſetzes nicht auf der Schrift, ſondern auf der mündlichen Vor- lage und Annahme beruhte. Was die Bündniſſe betrifft, ſo iſt uns von Livius 808) die Formel ihres Abſchluſſes aufbewahrt, und dieſe gedenkt ausdrücklich der geſchehenen Verleſung. Auch bei Gelübden, namentlich den öffentlichen, war die ſchrift- liche Aufzeichnung eine ganz häufige (tabulae votivae), und 807) Festus: Praejurationes facere dicuntur hi, qui ante alios con- ceptis verbis jurant, post quos in eadem verba jurantes tantummodo dicunt: idem in me. Polyb. VI, 21. Becker Handbuch der röm. Alterth. (Marquardt) III. Abth. 2 S. 291. Bei Tac. Hist. IV, 31 ſpricht jeder der Soldaten den Eid vollſtändig nach. Liv. II, 45. XXVIII, 29 läßt gar nicht erkennen, in welcher Weiſe der Eid abgeleiſtet iſt. 808) Liv. I, 24. Legibus (foederis) deinde recitatis: Audi, inquit, Jupiter .... ut illa palam prima postrema (vom Anfang bis zu Ende) ex illis tabulis cerave recitata sunt .. illis legibus popu- lus Romanus prior non deficiet.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/325
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 619. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/325>, abgerufen am 18.07.2024.