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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
kommt dies täglich vor! Erfahrung und Wissen werden als
Verkehrtheit und Befangenheit gestempelt, die völlige Unbe-
kanntschaft mit der Sache als Vorurtheilslosigkeit! Wer denn
einmal auf die Wahrheit der "natürlichen" Ansicht in Dingen
des Rechts pocht, möge dasselbe auch bei den Erscheinungen der
Natur thun, möge behaupten, daß die Erde still steht, und die
Sonne auf- und untergeht. Die Sonne und die Erde liegen
der natürlichen Anschauung näher, als das Recht, aber wäh-
rend hinsichtlich jener nur ein völlig Ungebildeter seinen Augen
mehr traut, als dem Urtheil der Wissenschaft, macht sich beim
Recht auch der Gebildete täglich derselben Selbstüberschätzung
schuldig.

Man wende mir nicht ein, daß doch das Recht im Rechts-
gefühl seinen Ursprung und Sitz habe. Gewiß! das Rechtsge-
fühl ist das Samenkorn, dem das Recht entsprossen ist, aber
das Samenkorn enthält nur den Keim des Baumes, nicht den
Baum selbst; es wächst und gedeiht nur dadurch, daß es die
enge und unvollkommene Behausung des Rechtsgefühls sprengt
und sich folgeweise dem Blick und Urtheil des Laien immer mehr
entzieht. So wie der Baum nicht wieder zum Samenkorn wer-
den kann, so vermag auch keine Macht der Erde ein einmal ent-
wickeltes Recht auf die Form des Rechtsgefühls zurückzuführen,
es dem Laien zurückzugeben, und das Urtheil desselben über ein
solches Recht ist darum um nichts competenter, daß es eine Zeit
gab, wo auch ihm ein solches in der That zustand.

Die Autorität des "gesunden Menschenverstandes" erkenne
ich für die Jurisprudenz als eine ganz entscheidende an, ja ich
möchte letztere definiren als: Niederschlag des gesunden
Menschenverstandes in Dingen des Rechts
. Aber sie
ist eben ein Niederschlag d. h. eine Ablagerung des gesun-
den Menschenverstandes unzähliger Individuen, ein Schatz von
Erfahrungssätzen, von denen jeder tausendfältig die Kritik des
denkenden Geistes und des praktischen Lebens hat bestehen müs-
sen. Wer sich dieses Schatzes zu bemächtigen weiß, der operirt

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
kommt dies täglich vor! Erfahrung und Wiſſen werden als
Verkehrtheit und Befangenheit geſtempelt, die völlige Unbe-
kanntſchaft mit der Sache als Vorurtheilsloſigkeit! Wer denn
einmal auf die Wahrheit der „natürlichen“ Anſicht in Dingen
des Rechts pocht, möge daſſelbe auch bei den Erſcheinungen der
Natur thun, möge behaupten, daß die Erde ſtill ſteht, und die
Sonne auf- und untergeht. Die Sonne und die Erde liegen
der natürlichen Anſchauung näher, als das Recht, aber wäh-
rend hinſichtlich jener nur ein völlig Ungebildeter ſeinen Augen
mehr traut, als dem Urtheil der Wiſſenſchaft, macht ſich beim
Recht auch der Gebildete täglich derſelben Selbſtüberſchätzung
ſchuldig.

Man wende mir nicht ein, daß doch das Recht im Rechts-
gefühl ſeinen Urſprung und Sitz habe. Gewiß! das Rechtsge-
fühl iſt das Samenkorn, dem das Recht entſproſſen iſt, aber
das Samenkorn enthält nur den Keim des Baumes, nicht den
Baum ſelbſt; es wächſt und gedeiht nur dadurch, daß es die
enge und unvollkommene Behauſung des Rechtsgefühls ſprengt
und ſich folgeweiſe dem Blick und Urtheil des Laien immer mehr
entzieht. So wie der Baum nicht wieder zum Samenkorn wer-
den kann, ſo vermag auch keine Macht der Erde ein einmal ent-
wickeltes Recht auf die Form des Rechtsgefühls zurückzuführen,
es dem Laien zurückzugeben, und das Urtheil deſſelben über ein
ſolches Recht iſt darum um nichts competenter, daß es eine Zeit
gab, wo auch ihm ein ſolches in der That zuſtand.

Die Autorität des „geſunden Menſchenverſtandes“ erkenne
ich für die Jurisprudenz als eine ganz entſcheidende an, ja ich
möchte letztere definiren als: Niederſchlag des geſunden
Menſchenverſtandes in Dingen des Rechts
. Aber ſie
iſt eben ein Niederſchlag d. h. eine Ablagerung des geſun-
den Menſchenverſtandes unzähliger Individuen, ein Schatz von
Erfahrungsſätzen, von denen jeder tauſendfältig die Kritik des
denkenden Geiſtes und des praktiſchen Lebens hat beſtehen müſ-
ſen. Wer ſich dieſes Schatzes zu bemächtigen weiß, der operirt

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[330/0036] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. kommt dies täglich vor! Erfahrung und Wiſſen werden als Verkehrtheit und Befangenheit geſtempelt, die völlige Unbe- kanntſchaft mit der Sache als Vorurtheilsloſigkeit! Wer denn einmal auf die Wahrheit der „natürlichen“ Anſicht in Dingen des Rechts pocht, möge daſſelbe auch bei den Erſcheinungen der Natur thun, möge behaupten, daß die Erde ſtill ſteht, und die Sonne auf- und untergeht. Die Sonne und die Erde liegen der natürlichen Anſchauung näher, als das Recht, aber wäh- rend hinſichtlich jener nur ein völlig Ungebildeter ſeinen Augen mehr traut, als dem Urtheil der Wiſſenſchaft, macht ſich beim Recht auch der Gebildete täglich derſelben Selbſtüberſchätzung ſchuldig. Man wende mir nicht ein, daß doch das Recht im Rechts- gefühl ſeinen Urſprung und Sitz habe. Gewiß! das Rechtsge- fühl iſt das Samenkorn, dem das Recht entſproſſen iſt, aber das Samenkorn enthält nur den Keim des Baumes, nicht den Baum ſelbſt; es wächſt und gedeiht nur dadurch, daß es die enge und unvollkommene Behauſung des Rechtsgefühls ſprengt und ſich folgeweiſe dem Blick und Urtheil des Laien immer mehr entzieht. So wie der Baum nicht wieder zum Samenkorn wer- den kann, ſo vermag auch keine Macht der Erde ein einmal ent- wickeltes Recht auf die Form des Rechtsgefühls zurückzuführen, es dem Laien zurückzugeben, und das Urtheil deſſelben über ein ſolches Recht iſt darum um nichts competenter, daß es eine Zeit gab, wo auch ihm ein ſolches in der That zuſtand. Die Autorität des „geſunden Menſchenverſtandes“ erkenne ich für die Jurisprudenz als eine ganz entſcheidende an, ja ich möchte letztere definiren als: Niederſchlag des geſunden Menſchenverſtandes in Dingen des Rechts. Aber ſie iſt eben ein Niederſchlag d. h. eine Ablagerung des geſun- den Menſchenverſtandes unzähliger Individuen, ein Schatz von Erfahrungsſätzen, von denen jeder tauſendfältig die Kritik des denkenden Geiſtes und des praktiſchen Lebens hat beſtehen müſ- ſen. Wer ſich dieſes Schatzes zu bemächtigen weiß, der operirt

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/36>, abgerufen am 27.04.2024.