Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.I. Gegensatz der natürl. u. jurist. Anschauungsweise. §. 37. damit zugleich das der Bescheidenheit und des Mißtrauens indas eigene Urtheil. In der Anklageschrift gegen die Jurisprudenz pflegen zwei aus der Werthlosigkeit seines Urtheils über die Jurisprudenz eine
"Werthlosigkeit der Jurisprudenz" zu machen! -- ein Einfall, den man durch eine ernstliche Widerlegung viel zu sehr geehrt hat. I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37. damit zugleich das der Beſcheidenheit und des Mißtrauens indas eigene Urtheil. In der Anklageſchrift gegen die Jurisprudenz pflegen zwei aus der Werthloſigkeit ſeines Urtheils über die Jurisprudenz eine
„Werthloſigkeit der Jurisprudenz“ zu machen! — ein Einfall, den man durch eine ernſtliche Widerlegung viel zu ſehr geehrt hat. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0035" n="329"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.</fw><lb/> damit zugleich das der Beſcheidenheit und des Mißtrauens in<lb/> das eigene Urtheil.</p><lb/> <p>In der Anklageſchrift gegen die Jurisprudenz pflegen zwei<lb/> Stichwörter: <hi rendition="#g">natürliche Anſchauung</hi> und <hi rendition="#g">geſunder<lb/> Menſchenverſtand</hi> eine große Rolle zu ſpielen, und man glaubt<lb/> die Jurisprudenz nicht empfindlicher treffen zu können, als wenn<lb/> man ihr unnatürliche Auffaſſung und Widerſpruch mit dem geſun-<lb/> den Menſchenverſtand Schuld gibt. Es ſtände aber in der That<lb/> ſchlimm um die Jurisprudenz und das Recht ſelbſt, wenn es<lb/> anders wäre! Es würde ſoviel heißen, als daß eine durch Jahr-<lb/> tauſende fortgeſetzte Beſchäftigung mit dem Recht vor der angebo-<lb/> renen Unkenntniß und Unerfahrenheit keinen Vorſprung gewon-<lb/> nen hätte. Die <hi rendition="#g">natürliche Auffaſſung</hi>! Was iſt ſie denn an-<lb/> ders, als der <hi rendition="#g">erſte</hi> Verſuch des Sehens und folglich die völlige<lb/> Abhängigkeit eines blöden, ungeübten Auges vom <hi rendition="#g">äußeren<lb/> Schein? Jede</hi> Erkenntniß beginnt mit <hi rendition="#g">ihr</hi>, aber nur, um<lb/> bald inne zu werden, daß der äußere Schein trügt, und der<lb/> Fortſchritt in der Erkenntniß beſteht gerade in einem unausge-<lb/> ſetzten Sichlosreißen von dem Glauben an die Wahrheit der<lb/> ſinnlichen Erſcheinung. Gilt nun für alle übrigen Gebiete des<lb/> menſchlichen Wiſſens der Satz, daß anhaltende Beſchäftigung<lb/> mit einem Gegenſtande und fortgeſetzte Beobachtung und Er-<lb/> forſchung deſſelben zu anderen Reſultaten führen, als eine ober-<lb/> flächliche Betrachtung deſſelben — zu Reſultaten, die der letzte-<lb/> ren nicht bloß völlig unverſtändlich ſein, ſondern geradezu als<lb/> widerſinnig und unmöglich erſcheinen müſſen — dann meine<lb/> ich, wird dieſer Satz auch wohl für das Recht gelten. In den<lb/> meiſten anderen Wiſſenſchaften würde kein gebildeter Laie im<lb/> Fall einer ſolchen Differenz es wagen, <hi rendition="#g">ſich</hi> die Wahrheit und<lb/> der Wiſſenſchaft den Irrthum zuzutheilen; in Dingen des Rechts<lb/><note xml:id="seg2pn_2_2" prev="#seg2pn_2_1" place="foot" n="477)">aus der Werthloſigkeit <hi rendition="#g">ſeines Urtheils</hi> über die Jurisprudenz eine<lb/> „<hi rendition="#g">Werthloſigkeit der Jurisprudenz</hi>“ zu machen! — ein Einfall, den<lb/> man durch eine ernſtliche Widerlegung viel zu ſehr geehrt hat.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [329/0035]
I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
damit zugleich das der Beſcheidenheit und des Mißtrauens in
das eigene Urtheil.
In der Anklageſchrift gegen die Jurisprudenz pflegen zwei
Stichwörter: natürliche Anſchauung und geſunder
Menſchenverſtand eine große Rolle zu ſpielen, und man glaubt
die Jurisprudenz nicht empfindlicher treffen zu können, als wenn
man ihr unnatürliche Auffaſſung und Widerſpruch mit dem geſun-
den Menſchenverſtand Schuld gibt. Es ſtände aber in der That
ſchlimm um die Jurisprudenz und das Recht ſelbſt, wenn es
anders wäre! Es würde ſoviel heißen, als daß eine durch Jahr-
tauſende fortgeſetzte Beſchäftigung mit dem Recht vor der angebo-
renen Unkenntniß und Unerfahrenheit keinen Vorſprung gewon-
nen hätte. Die natürliche Auffaſſung! Was iſt ſie denn an-
ders, als der erſte Verſuch des Sehens und folglich die völlige
Abhängigkeit eines blöden, ungeübten Auges vom äußeren
Schein? Jede Erkenntniß beginnt mit ihr, aber nur, um
bald inne zu werden, daß der äußere Schein trügt, und der
Fortſchritt in der Erkenntniß beſteht gerade in einem unausge-
ſetzten Sichlosreißen von dem Glauben an die Wahrheit der
ſinnlichen Erſcheinung. Gilt nun für alle übrigen Gebiete des
menſchlichen Wiſſens der Satz, daß anhaltende Beſchäftigung
mit einem Gegenſtande und fortgeſetzte Beobachtung und Er-
forſchung deſſelben zu anderen Reſultaten führen, als eine ober-
flächliche Betrachtung deſſelben — zu Reſultaten, die der letzte-
ren nicht bloß völlig unverſtändlich ſein, ſondern geradezu als
widerſinnig und unmöglich erſcheinen müſſen — dann meine
ich, wird dieſer Satz auch wohl für das Recht gelten. In den
meiſten anderen Wiſſenſchaften würde kein gebildeter Laie im
Fall einer ſolchen Differenz es wagen, ſich die Wahrheit und
der Wiſſenſchaft den Irrthum zuzutheilen; in Dingen des Rechts
477)
477) aus der Werthloſigkeit ſeines Urtheils über die Jurisprudenz eine
„Werthloſigkeit der Jurisprudenz“ zu machen! — ein Einfall, den
man durch eine ernſtliche Widerlegung viel zu ſehr geehrt hat.
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