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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
den haben. Daß er bei dem Act, welcher dem ganzen Verfahren
seine Grundlage gab: der materiellen legis actio des Klägers, aus-
geschlossen war, wird uns nicht Wunder nehmen dürfen, die Na-
tur des Processes bringt dies mit sich. Eine Parthei, die im heu-
tigen Proceß ein in verkehrter Weise abgefaßtes Beweisinterlokut
hat rechtskräftig werden lassen, kann eben so wohl wegen eines
einzigen Wörtchens den Proceß verlieren, wie im alten Rom
-- die gefährliche Kraft des Worts ist geblieben, sie hat sich nur
auf einen andern processualischen Act geworfen (s. u.).

Die "nimia subtilitas" der alten Juristen, die nach Gajus
das alte Verfahren verhaßt gemacht und gestürzt haben soll,
kann dies in der That nicht bewirkt haben. Um zu geschweigen,
daß dieselbe sich im materiellen Recht nach wie vor in un-
geschwächter Kraft behauptete und zwar in einzelnen Theilen
z. B. im Testament in einer Zuspitzung, die hinter dem alten
Proceß um nichts zurückblieb, so tauchte dieselbe ja auch im
Proceß sofort in anderer Form wieder auf. Das formalistische
Element des Formularprocesses steht hinter dem des ältern Ver-
fahrens in keiner Weise zurück, weder in extensiver, noch inten-
siver Hinsicht. Hier wie dort Formeln für jede Klage, hier wie
dort als unausbleibliche Folge des kleinsten Formfehlers der
Verlust des ganzen Processes. Und sodann: wenn einmal ein
solcher Umschwung in der Volksansicht eingetreten, wie Gajus
ihn supponirt, warum ließ man das bisherige Verfahren beim
Centumviralgerichtshof in alter Weise bestehen?

Das alte Verfahren war gefährlicher, als das neue, der
Uebergang von dem einen zum andern bezweckte und bezeichnete
eine Verminderung der Gefährlichkeit -- das gebe ich bereitwil-
lig zu. Aber die Erleichterung lag nicht darin, worein Gajus sie
setzt -- in einer intensiven Abschwächung des Formalismus,
sondern in einer andern Gestaltung desselben. An die Stelle
des Sprechens trat das Schreiben,894) an die der Parthei

894) Und damit, beiläufig gesagt, auch das Bedürfniß eines bestimmten

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
den haben. Daß er bei dem Act, welcher dem ganzen Verfahren
ſeine Grundlage gab: der materiellen legis actio des Klägers, aus-
geſchloſſen war, wird uns nicht Wunder nehmen dürfen, die Na-
tur des Proceſſes bringt dies mit ſich. Eine Parthei, die im heu-
tigen Proceß ein in verkehrter Weiſe abgefaßtes Beweisinterlokut
hat rechtskräftig werden laſſen, kann eben ſo wohl wegen eines
einzigen Wörtchens den Proceß verlieren, wie im alten Rom
— die gefährliche Kraft des Worts iſt geblieben, ſie hat ſich nur
auf einen andern proceſſualiſchen Act geworfen (ſ. u.).

Die „nimia subtilitas“ der alten Juriſten, die nach Gajus
das alte Verfahren verhaßt gemacht und geſtürzt haben ſoll,
kann dies in der That nicht bewirkt haben. Um zu geſchweigen,
daß dieſelbe ſich im materiellen Recht nach wie vor in un-
geſchwächter Kraft behauptete und zwar in einzelnen Theilen
z. B. im Teſtament in einer Zuſpitzung, die hinter dem alten
Proceß um nichts zurückblieb, ſo tauchte dieſelbe ja auch im
Proceß ſofort in anderer Form wieder auf. Das formaliſtiſche
Element des Formularproceſſes ſteht hinter dem des ältern Ver-
fahrens in keiner Weiſe zurück, weder in extenſiver, noch inten-
ſiver Hinſicht. Hier wie dort Formeln für jede Klage, hier wie
dort als unausbleibliche Folge des kleinſten Formfehlers der
Verluſt des ganzen Proceſſes. Und ſodann: wenn einmal ein
ſolcher Umſchwung in der Volksanſicht eingetreten, wie Gajus
ihn ſupponirt, warum ließ man das bisherige Verfahren beim
Centumviralgerichtshof in alter Weiſe beſtehen?

Das alte Verfahren war gefährlicher, als das neue, der
Uebergang von dem einen zum andern bezweckte und bezeichnete
eine Verminderung der Gefährlichkeit — das gebe ich bereitwil-
lig zu. Aber die Erleichterung lag nicht darin, worein Gajus ſie
ſetzt — in einer intenſiven Abſchwächung des Formalismus,
ſondern in einer andern Geſtaltung deſſelben. An die Stelle
des Sprechens trat das Schreiben,894) an die der Parthei

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[663/0369] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47. den haben. Daß er bei dem Act, welcher dem ganzen Verfahren ſeine Grundlage gab: der materiellen legis actio des Klägers, aus- geſchloſſen war, wird uns nicht Wunder nehmen dürfen, die Na- tur des Proceſſes bringt dies mit ſich. Eine Parthei, die im heu- tigen Proceß ein in verkehrter Weiſe abgefaßtes Beweisinterlokut hat rechtskräftig werden laſſen, kann eben ſo wohl wegen eines einzigen Wörtchens den Proceß verlieren, wie im alten Rom — die gefährliche Kraft des Worts iſt geblieben, ſie hat ſich nur auf einen andern proceſſualiſchen Act geworfen (ſ. u.). Die „nimia subtilitas“ der alten Juriſten, die nach Gajus das alte Verfahren verhaßt gemacht und geſtürzt haben ſoll, kann dies in der That nicht bewirkt haben. Um zu geſchweigen, daß dieſelbe ſich im materiellen Recht nach wie vor in un- geſchwächter Kraft behauptete und zwar in einzelnen Theilen z. B. im Teſtament in einer Zuſpitzung, die hinter dem alten Proceß um nichts zurückblieb, ſo tauchte dieſelbe ja auch im Proceß ſofort in anderer Form wieder auf. Das formaliſtiſche Element des Formularproceſſes ſteht hinter dem des ältern Ver- fahrens in keiner Weiſe zurück, weder in extenſiver, noch inten- ſiver Hinſicht. Hier wie dort Formeln für jede Klage, hier wie dort als unausbleibliche Folge des kleinſten Formfehlers der Verluſt des ganzen Proceſſes. Und ſodann: wenn einmal ein ſolcher Umſchwung in der Volksanſicht eingetreten, wie Gajus ihn ſupponirt, warum ließ man das bisherige Verfahren beim Centumviralgerichtshof in alter Weiſe beſtehen? Das alte Verfahren war gefährlicher, als das neue, der Uebergang von dem einen zum andern bezweckte und bezeichnete eine Verminderung der Gefährlichkeit — das gebe ich bereitwil- lig zu. Aber die Erleichterung lag nicht darin, worein Gajus ſie ſetzt — in einer intenſiven Abſchwächung des Formalismus, ſondern in einer andern Geſtaltung deſſelben. An die Stelle des Sprechens trat das Schreiben, 894) an die der Parthei 894) Und damit, beiläufig geſagt, auch das Bedürfniß eines beſtimmten

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 663. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/369>, abgerufen am 24.11.2024.