Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
Wir kennen bereits das Urtheil, das die spätere Zeit über den Geist, in dem sie gehandhabt wurde, fällte, jene Vorwürfe der übertriebenen Spitzfindigkeit, Silbenstecherei, minutiösen Strenge u. s. w. (Note 647 und S. 649), und ebenso habe ich bereits S. 615 die Ansicht, als ob diese Eigenschaften nicht über- all in derselben Schärfe, sondern vorzugsweise nur in den Legis- actionen zu Tage getreten, auf ihr rechtes Maß zurückgeführt. Die Jurisprudenz blieb sich überall gleich, ihre Strenge kannte keine Grade, und konnte sie nicht kennen, denn dieselbe war ja nichts Willkührliches, Subjectives, sondern die mit dem Be- griff der Form selbst objectiv gegebene Folge einer Verletzung derselben. Der Schein des Gegentheils beruht nur darauf, daß das Maß der Bestimmtheit der Form bei verschiedenen Geschäf- ten ein verschiedenes war (S. 612 fl.). Grade in der Strenge könnte es nur unter der Voraussetzung geben, daß die Abwei- chung von der Form Grade zuließe, daß man zwischen leichte- ren und schwereren Formfehlern unterscheiden dürfte. Allein wie wäre dies möglich, und wo wäre die Gränze? Möge ein Gran oder ein Loth am Pfunde fehlen -- das Pfund ist kein volles! Ist einmal ein bestimmtes Wort für die Form wesentlich, wie könnte es vertauscht werden mit einem gleichbedeutenden? Sind es mehre Worte, ist es eine bestimmte Reihenfolge derselben, wie könnte daran etwas fehlen oder geändert werden? Kurz, es gibt hier keine Wahl -- die exacteste Genauigkeit, möge dieselbe immerhin Kleinigkeitskrämerei und Pedanterie gescholten wer- den und den Eindruck größter Kümmerlichkeit machen, ist die einzige Rettung gegen Willkühr. Wer sie nicht will, muß die ganze Einrichtung nicht wollen, wer letztere will, muß jene in den Kauf nehmen.
Ich werde jetzt an einigen Beispielen nachweisen, wie die ältere Jurisprudenz diese Consequenz des Formalismus zur Gel- tung gebracht hat.
Daß im Legisactionen-Proceß ein einziges Wort den ganzen Proceß kosten konnte, ist uns bereits bekannt (S. 649), für den
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Wir kennen bereits das Urtheil, das die ſpätere Zeit über den Geiſt, in dem ſie gehandhabt wurde, fällte, jene Vorwürfe der übertriebenen Spitzfindigkeit, Silbenſtecherei, minutiöſen Strenge u. ſ. w. (Note 647 und S. 649), und ebenſo habe ich bereits S. 615 die Anſicht, als ob dieſe Eigenſchaften nicht über- all in derſelben Schärfe, ſondern vorzugsweiſe nur in den Legis- actionen zu Tage getreten, auf ihr rechtes Maß zurückgeführt. Die Jurisprudenz blieb ſich überall gleich, ihre Strenge kannte keine Grade, und konnte ſie nicht kennen, denn dieſelbe war ja nichts Willkührliches, Subjectives, ſondern die mit dem Be- griff der Form ſelbſt objectiv gegebene Folge einer Verletzung derſelben. Der Schein des Gegentheils beruht nur darauf, daß das Maß der Beſtimmtheit der Form bei verſchiedenen Geſchäf- ten ein verſchiedenes war (S. 612 fl.). Grade in der Strenge könnte es nur unter der Vorausſetzung geben, daß die Abwei- chung von der Form Grade zuließe, daß man zwiſchen leichte- ren und ſchwereren Formfehlern unterſcheiden dürfte. Allein wie wäre dies möglich, und wo wäre die Gränze? Möge ein Gran oder ein Loth am Pfunde fehlen — das Pfund iſt kein volles! Iſt einmal ein beſtimmtes Wort für die Form weſentlich, wie könnte es vertauſcht werden mit einem gleichbedeutenden? Sind es mehre Worte, iſt es eine beſtimmte Reihenfolge derſelben, wie könnte daran etwas fehlen oder geändert werden? Kurz, es gibt hier keine Wahl — die exacteſte Genauigkeit, möge dieſelbe immerhin Kleinigkeitskrämerei und Pedanterie geſcholten wer- den und den Eindruck größter Kümmerlichkeit machen, iſt die einzige Rettung gegen Willkühr. Wer ſie nicht will, muß die ganze Einrichtung nicht wollen, wer letztere will, muß jene in den Kauf nehmen.
Ich werde jetzt an einigen Beiſpielen nachweiſen, wie die ältere Jurisprudenz dieſe Conſequenz des Formalismus zur Gel- tung gebracht hat.
Daß im Legisactionen-Proceß ein einziges Wort den ganzen Proceß koſten konnte, iſt uns bereits bekannt (S. 649), für den
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Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Wir kennen bereits das Urtheil, das die ſpätere Zeit über
den Geiſt, in dem ſie gehandhabt wurde, fällte, jene Vorwürfe
der übertriebenen Spitzfindigkeit, Silbenſtecherei, minutiöſen
Strenge u. ſ. w. (Note 647 und S. 649), und ebenſo habe ich
bereits S. 615 die Anſicht, als ob dieſe Eigenſchaften nicht über-
all in derſelben Schärfe, ſondern vorzugsweiſe nur in den Legis-
actionen zu Tage getreten, auf ihr rechtes Maß zurückgeführt.
Die Jurisprudenz blieb ſich überall gleich, ihre Strenge kannte
keine Grade, und konnte ſie nicht kennen, denn dieſelbe war ja
nichts Willkührliches, Subjectives, ſondern die mit dem Be-
griff der Form ſelbſt objectiv gegebene Folge einer Verletzung
derſelben. Der Schein des Gegentheils beruht nur darauf, daß
das Maß der Beſtimmtheit der Form bei verſchiedenen Geſchäf-
ten ein verſchiedenes war (S. 612 fl.). Grade in der Strenge
könnte es nur unter der Vorausſetzung geben, daß die Abwei-
chung von der Form Grade zuließe, daß man zwiſchen leichte-
ren und ſchwereren Formfehlern unterſcheiden dürfte. Allein wie
wäre dies möglich, und wo wäre die Gränze? Möge ein Gran
oder ein Loth am Pfunde fehlen — das Pfund iſt kein volles!
Iſt einmal ein beſtimmtes Wort für die Form weſentlich, wie
könnte es vertauſcht werden mit einem gleichbedeutenden? Sind
es mehre Worte, iſt es eine beſtimmte Reihenfolge derſelben,
wie könnte daran etwas fehlen oder geändert werden? Kurz, es
gibt hier keine Wahl — die exacteſte Genauigkeit, möge dieſelbe
immerhin Kleinigkeitskrämerei und Pedanterie geſcholten wer-
den und den Eindruck größter Kümmerlichkeit machen, iſt die
einzige Rettung gegen Willkühr. Wer ſie nicht will, muß die
ganze Einrichtung nicht wollen, wer letztere will, muß jene in
den Kauf nehmen.
Ich werde jetzt an einigen Beiſpielen nachweiſen, wie die
ältere Jurisprudenz dieſe Conſequenz des Formalismus zur Gel-
tung gebracht hat.
Daß im Legisactionen-Proceß ein einziges Wort den ganzen
Proceß koſten konnte, iſt uns bereits bekannt (S. 649), für den
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 680. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/386>, abgerufen am 24.11.2024.
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