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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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I. Gegensatz der natürl. u. jurist. Anschauungsweise. §. 37.
lehnen darf, noch weniger aber für individuelle Ansichten ein-
zelner Juristen, deren Uebereinstimmung mit der gesunden Ver-
nunft allerdings mitunter mehr als zweifelhaft und von ihren
Urhebern selbst vielleicht am wenigsten beanspruch ist. Die ge-
sunde Kritik des praktischen Lebens richtet die ungesunden An-
sichten einfach dadurch, daß sie sie ignorirt.

Zweitens: die Zweckmäßigkeit oder Nothwendigkeit des
Einzelnen liegt, wie überall, so auch hier nicht bloß in ihm
selbst, sondern in dem Zusammenhange desselben mit dem Gan-
zen, kann mithin auch nur aus letzterem begriffen und nachge-
wiesen werden. Gerade dadurch entsteht so leicht und so häufig
der Schein der Unvernünftigkeit oder Zweckwidrigkeit des Ein-
zelnen, daß der Urtheilende jenen Zusammenhang nicht kennt
und daher in aller Unbefangenheit von der Annahme ausgeht,
als verstatteten die einzelnen Punkte eine isolirte Feststellung
und Beurtheilung. Wäre diese Annahme eine richtige, so würde
die Entscheidung, die die Jurisprudenz getroffen, nicht so häufig
von der, die der Laie für die sachgemäße hält, divergiren. Aber
eben weil sie es nicht ist, weil beide auf ganz verschiedenen
Standpunkten stehen, kann nicht bloß, sondern muß so häufig
eine solche Divergenz eintreten. Darum ist es oft kaum mög-
lich, einem Laien die Vernünftigkeit eines einzelnen Satzes be-
greiflich zu machen, denn ihm fehlt gerade das, woran man an-
knüpfen müßte, die Kenntniß der Mittelglieder zwischen jenem
Satz und dem letzten Grunde, kurz die Kenntniß des Zusam-
menhanges.


I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37.
lehnen darf, noch weniger aber für individuelle Anſichten ein-
zelner Juriſten, deren Uebereinſtimmung mit der geſunden Ver-
nunft allerdings mitunter mehr als zweifelhaft und von ihren
Urhebern ſelbſt vielleicht am wenigſten beanſpruch iſt. Die ge-
ſunde Kritik des praktiſchen Lebens richtet die ungeſunden An-
ſichten einfach dadurch, daß ſie ſie ignorirt.

Zweitens: die Zweckmäßigkeit oder Nothwendigkeit des
Einzelnen liegt, wie überall, ſo auch hier nicht bloß in ihm
ſelbſt, ſondern in dem Zuſammenhange deſſelben mit dem Gan-
zen, kann mithin auch nur aus letzterem begriffen und nachge-
wieſen werden. Gerade dadurch entſteht ſo leicht und ſo häufig
der Schein der Unvernünftigkeit oder Zweckwidrigkeit des Ein-
zelnen, daß der Urtheilende jenen Zuſammenhang nicht kennt
und daher in aller Unbefangenheit von der Annahme ausgeht,
als verſtatteten die einzelnen Punkte eine iſolirte Feſtſtellung
und Beurtheilung. Wäre dieſe Annahme eine richtige, ſo würde
die Entſcheidung, die die Jurisprudenz getroffen, nicht ſo häufig
von der, die der Laie für die ſachgemäße hält, divergiren. Aber
eben weil ſie es nicht iſt, weil beide auf ganz verſchiedenen
Standpunkten ſtehen, kann nicht bloß, ſondern muß ſo häufig
eine ſolche Divergenz eintreten. Darum iſt es oft kaum mög-
lich, einem Laien die Vernünftigkeit eines einzelnen Satzes be-
greiflich zu machen, denn ihm fehlt gerade das, woran man an-
knüpfen müßte, die Kenntniß der Mittelglieder zwiſchen jenem
Satz und dem letzten Grunde, kurz die Kenntniß des Zuſam-
menhanges.


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[333/0039] I. Gegenſatz der natürl. u. juriſt. Anſchauungsweiſe. §. 37. lehnen darf, noch weniger aber für individuelle Anſichten ein- zelner Juriſten, deren Uebereinſtimmung mit der geſunden Ver- nunft allerdings mitunter mehr als zweifelhaft und von ihren Urhebern ſelbſt vielleicht am wenigſten beanſpruch iſt. Die ge- ſunde Kritik des praktiſchen Lebens richtet die ungeſunden An- ſichten einfach dadurch, daß ſie ſie ignorirt. Zweitens: die Zweckmäßigkeit oder Nothwendigkeit des Einzelnen liegt, wie überall, ſo auch hier nicht bloß in ihm ſelbſt, ſondern in dem Zuſammenhange deſſelben mit dem Gan- zen, kann mithin auch nur aus letzterem begriffen und nachge- wieſen werden. Gerade dadurch entſteht ſo leicht und ſo häufig der Schein der Unvernünftigkeit oder Zweckwidrigkeit des Ein- zelnen, daß der Urtheilende jenen Zuſammenhang nicht kennt und daher in aller Unbefangenheit von der Annahme ausgeht, als verſtatteten die einzelnen Punkte eine iſolirte Feſtſtellung und Beurtheilung. Wäre dieſe Annahme eine richtige, ſo würde die Entſcheidung, die die Jurisprudenz getroffen, nicht ſo häufig von der, die der Laie für die ſachgemäße hält, divergiren. Aber eben weil ſie es nicht iſt, weil beide auf ganz verſchiedenen Standpunkten ſtehen, kann nicht bloß, ſondern muß ſo häufig eine ſolche Divergenz eintreten. Darum iſt es oft kaum mög- lich, einem Laien die Vernünftigkeit eines einzelnen Satzes be- greiflich zu machen, denn ihm fehlt gerade das, woran man an- knüpfen müßte, die Kenntniß der Mittelglieder zwiſchen jenem Satz und dem letzten Grunde, kurz die Kenntniß des Zuſam- menhanges.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/39>, abgerufen am 28.04.2024.