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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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II. Theorie derselben. Die Aufgabe. §. 38.
Anforderung zurückführen. Die Verwirklichung soll sein einer-
seits eine unausbleibliche, mithin sichere, gleichmäßige, anderer-
seits eine leichte und rasche.

Fragen wir, wie diese Anforderungen sich in der Geschichte
erfüllen, so finden wir zwischen den positiven Rechten eine große
Verschiedenheit. Hier ein einfaches, rohes Recht, aber sich aus-
zeichnend durch die der Jugend eigne Thatkraft und Raschheit
des Handelns, eine schnelle und strenge Form des Verfahrens,
dort ein ausgebildetes Recht, das alle Vorzüge des Alters be-
sitzt, aber daneben auch die Mängel desselben, die schwache und
unsichere Hand, die Langsamkeit und Schwerfälligkeit des Ver-
fahrens. Man könnte geneigt sein, diesen Gegensatz an die Al-
tersstufen der Rechte anzuknüpfen, in jener Leichtigkeit und
Schnelligkeit nur eine natürliche Folge der Einfachheit, in die-
ser Schwerfälligkeit eine natürliche Folge der Weitschichtigkeit
und Complicirtheit des Rechts zu erblicken. Allein dies wäre
verkehrt. Allerdings will ich den Einfluß des äußeren und in-
neren Wachsthums der Rechte auf die Leichtigkeit und Schnellig-
keit der Operation der Rechtsanwendung nicht in Abrede stel-
len; je schwerer die Last wird, desto schwerer ist sie zu heben und
zu bewältigen; das gilt von körperlichen wie geistigen Dingen.
Allein andererseits ist es möglich, den nachtheiligen Einfluß
dieses natürlichen Moments des Wachsthums durch Kunst
zu verringern und auszuschließen, und das ist eben die Aufgabe
der Kunst, die wir hier zu betrachten haben, der juristischen.

Wir wollen uns zunächst der Gründe bewußt werden, die
über die Verwirklichungsfrage (nicht bloß über die Raschheit
und Leichtigkeit der Anwendung, sondern über die Lösung der
Aufgabe schlechthin) entscheiden. Nach welchen Gründen, Ein-
flüssen, Voraussetzungen u. s. w. bestimmt sich also, um für
die Sache einen eignen Ausdruck zu haben, das Verwirkli-
chungsvermögen
der positiven Rechte? Diese Gründe lie-
gen theils in, theils außer dem Recht. Zur letzteren Classe ge-
hört die intellektuelle und sittliche Culturstufe des Volks, die

II. Theorie derſelben. Die Aufgabe. §. 38.
Anforderung zurückführen. Die Verwirklichung ſoll ſein einer-
ſeits eine unausbleibliche, mithin ſichere, gleichmäßige, anderer-
ſeits eine leichte und raſche.

Fragen wir, wie dieſe Anforderungen ſich in der Geſchichte
erfüllen, ſo finden wir zwiſchen den poſitiven Rechten eine große
Verſchiedenheit. Hier ein einfaches, rohes Recht, aber ſich aus-
zeichnend durch die der Jugend eigne Thatkraft und Raſchheit
des Handelns, eine ſchnelle und ſtrenge Form des Verfahrens,
dort ein ausgebildetes Recht, das alle Vorzüge des Alters be-
ſitzt, aber daneben auch die Mängel deſſelben, die ſchwache und
unſichere Hand, die Langſamkeit und Schwerfälligkeit des Ver-
fahrens. Man könnte geneigt ſein, dieſen Gegenſatz an die Al-
tersſtufen der Rechte anzuknüpfen, in jener Leichtigkeit und
Schnelligkeit nur eine natürliche Folge der Einfachheit, in die-
ſer Schwerfälligkeit eine natürliche Folge der Weitſchichtigkeit
und Complicirtheit des Rechts zu erblicken. Allein dies wäre
verkehrt. Allerdings will ich den Einfluß des äußeren und in-
neren Wachsthums der Rechte auf die Leichtigkeit und Schnellig-
keit der Operation der Rechtsanwendung nicht in Abrede ſtel-
len; je ſchwerer die Laſt wird, deſto ſchwerer iſt ſie zu heben und
zu bewältigen; das gilt von körperlichen wie geiſtigen Dingen.
Allein andererſeits iſt es möglich, den nachtheiligen Einfluß
dieſes natürlichen Moments des Wachsthums durch Kunſt
zu verringern und auszuſchließen, und das iſt eben die Aufgabe
der Kunſt, die wir hier zu betrachten haben, der juriſtiſchen.

Wir wollen uns zunächſt der Gründe bewußt werden, die
über die Verwirklichungsfrage (nicht bloß über die Raſchheit
und Leichtigkeit der Anwendung, ſondern über die Löſung der
Aufgabe ſchlechthin) entſcheiden. Nach welchen Gründen, Ein-
flüſſen, Vorausſetzungen u. ſ. w. beſtimmt ſich alſo, um für
die Sache einen eignen Ausdruck zu haben, das Verwirkli-
chungsvermögen
der poſitiven Rechte? Dieſe Gründe lie-
gen theils in, theils außer dem Recht. Zur letzteren Claſſe ge-
hört die intellektuelle und ſittliche Culturſtufe des Volks, die

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[335/0041] II. Theorie derſelben. Die Aufgabe. §. 38. Anforderung zurückführen. Die Verwirklichung ſoll ſein einer- ſeits eine unausbleibliche, mithin ſichere, gleichmäßige, anderer- ſeits eine leichte und raſche. Fragen wir, wie dieſe Anforderungen ſich in der Geſchichte erfüllen, ſo finden wir zwiſchen den poſitiven Rechten eine große Verſchiedenheit. Hier ein einfaches, rohes Recht, aber ſich aus- zeichnend durch die der Jugend eigne Thatkraft und Raſchheit des Handelns, eine ſchnelle und ſtrenge Form des Verfahrens, dort ein ausgebildetes Recht, das alle Vorzüge des Alters be- ſitzt, aber daneben auch die Mängel deſſelben, die ſchwache und unſichere Hand, die Langſamkeit und Schwerfälligkeit des Ver- fahrens. Man könnte geneigt ſein, dieſen Gegenſatz an die Al- tersſtufen der Rechte anzuknüpfen, in jener Leichtigkeit und Schnelligkeit nur eine natürliche Folge der Einfachheit, in die- ſer Schwerfälligkeit eine natürliche Folge der Weitſchichtigkeit und Complicirtheit des Rechts zu erblicken. Allein dies wäre verkehrt. Allerdings will ich den Einfluß des äußeren und in- neren Wachsthums der Rechte auf die Leichtigkeit und Schnellig- keit der Operation der Rechtsanwendung nicht in Abrede ſtel- len; je ſchwerer die Laſt wird, deſto ſchwerer iſt ſie zu heben und zu bewältigen; das gilt von körperlichen wie geiſtigen Dingen. Allein andererſeits iſt es möglich, den nachtheiligen Einfluß dieſes natürlichen Moments des Wachsthums durch Kunſt zu verringern und auszuſchließen, und das iſt eben die Aufgabe der Kunſt, die wir hier zu betrachten haben, der juriſtiſchen. Wir wollen uns zunächſt der Gründe bewußt werden, die über die Verwirklichungsfrage (nicht bloß über die Raſchheit und Leichtigkeit der Anwendung, ſondern über die Löſung der Aufgabe ſchlechthin) entſcheiden. Nach welchen Gründen, Ein- flüſſen, Vorausſetzungen u. ſ. w. beſtimmt ſich alſo, um für die Sache einen eignen Ausdruck zu haben, das Verwirkli- chungsvermögen der poſitiven Rechte? Dieſe Gründe lie- gen theils in, theils außer dem Recht. Zur letzteren Claſſe ge- hört die intellektuelle und ſittliche Culturſtufe des Volks, die

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/41>, abgerufen am 27.04.2024.